Das Phänomen Neonatizid Wenn Frauen ihre Babys töten

Düsseldorf · Sie sind weder Monster noch dumme kleine Mädchen: In 15 bis 40 Fällen pro Jahr bringt eine Mutter in Deutschland ihr Kind gleich nach der Geburt um. Laut einer LKA-Profilerin ist das Dunkelfeld aber wohl groß.

 Ende 2018 suchte die Polizei Altkleidercontainer mit Spürhunden ab, nachdem ein totes Baby in Polen zwischen Altkleidern aus Duisburg gefunden worden war. Der Fall der kleinen „Mia“ ist bis jetzt nicht aufgeklärt – für aber auf die Spur einer anderen Frau, die ihr Neugeborenes tötete.

Ende 2018 suchte die Polizei Altkleidercontainer mit Spürhunden ab, nachdem ein totes Baby in Polen zwischen Altkleidern aus Duisburg gefunden worden war. Der Fall der kleinen „Mia“ ist bis jetzt nicht aufgeklärt – für aber auf die Spur einer anderen Frau, die ihr Neugeborenes tötete.

Foto: dpa/Roland Weihrauch

Es ist ein Fall, der fassungslos macht: Eine 31 Jahre alte Frau, verlobt, ein einjähriges Kind, alles scheint in Ordnung zu sein – dann bekommt sie plötzlich Blutungen und wird ins Krankenhaus gebracht, wo der Arzt feststellt, sie habe kurz zuvor entbunden. Im Garten der Familie wird in einem Gebüsch ein zugeknoteter Sack mit Hausmüll und einem Baby entdeckt. Gerade noch rechtzeitig: Das Mädchen ist unterkühlt, der Sauerstoff in der Tüte knapp – doch es lebt. Der Fall aus dem Märkischen Kreis im Juni wäre um ein Haar in die Statistik als einer von 15 bis 40 Neonatiziden pro Jahr in Deutschland eingegangen. So nennt man das, wenn Mütter ihre Neugeborenen töten.

Bis in die 90er hielt sich das Bild von der jungen, ledigen Erstgebärenden als Täterin, die kein Geld, keine Perspektive und keine Ahnung von dem hat, was in ihrem Körper vor sich geht. Ein Bild, in das die Mutter aus dem aktuellen Fall mit ihrem Alter, ihrer Partnerschaft und erfolgreichen ersten Schwangerschaft nicht passt. Was Barbara Ernst vom Landeskriminalamt in Düsseldorf nicht im Geringsten überrascht. Die Kriminalhauptkommissarin arbeitet in der Operativen Fallanalyse – was man landläufig als Profiling bezeichnet. Diese Spezialisten wurden vor fast 20 Jahren zum ersten Mal in einem Fall von Neonatizid um Unterstützung gebeten, stellten fest, wie wenig wirklich über das Phänomen bekannt ist, und initiierten die erste kriminologischen Studie, an der Ernst selbst beteiligt war: „Da haben wir festgestellt, dass die ganzen Mythen gar nicht stimmen.“

Für sie als Profilerin stand bei der Untersuchung im Fokus, ob es ein typisches Täterprofil gibt. Dazu untersuchte das Team 144 Fälle aus zehn Jahren. Das Ergebnis: „Das Profil ist: eine Frau im gebärfähigen Alter“, sagt Ernst. Mit anderen Worten: Es könnte jede sein.

Die Täterinnen kamen aus allen Bildungs- und Gesellschaftsschichten. Die jüngste war 13 Jahre alt, die älteste 40. Es gab Erstgebärende, eine Mutter hingegen hatte schon sechs ältere Kinder. Einige lebten noch bei ihren Eltern, andere waren verheiratet. „Es sind ganz normale Frauen“, erklärt Ernst. Und vor allem: keine Kriminellen. Keine blutrünstigen Gewalttäterinnen, die eiskalt planen, ihren Nachwuchs zu meucheln. Die Profilerin sagt: „Bei den Fällen, die ich in meiner Laufbahn untersucht habe – und das waren einige –, gab es nie einen Plan.“

 In diese Handtücher gewickelt und in einem zugeknoteten Müllsack fand die Polizei im Juni einen Säugling in Kierspe im Märkischen Kreis. Die Mutter entband, ohne dass der Verlobte es bemerkte. Das Baby überlebte knapp und wurde nicht zu einem der Fälle von Neonatizid in der Statistik.

In diese Handtücher gewickelt und in einem zugeknoteten Müllsack fand die Polizei im Juni einen Säugling in Kierspe im Märkischen Kreis. Die Mutter entband, ohne dass der Verlobte es bemerkte. Das Baby überlebte knapp und wurde nicht zu einem der Fälle von Neonatizid in der Statistik.

Foto: dpa/---

Anke Rohde, lange Leiterin der Gynäkologischen Psychosomatik an der Uniklinik Bonn und inzwischen emeritiert, beschreibt gemeinsam mit Wissenschaftskollegen in ihren Studien, dass der Neonatizid der mögliche Ausgang eines langen Prozesses ist. Dieser beinhalte stets ein Negieren – also Verdrängen oder Verheimlichen – der Schwangerschaft. Bei einer von 2455 Schwangerschaften bleibe diese bis zur Entbindung unentdeckt. Daraus ergäben sich 1600 negierte Schwangerschaften in Deutschland pro Jahr; allerdings seit der Wiedervereinigung konstant nur maximal 40 aufgedeckte Neonatizide jährlich. Das heißt, eine Verdrängung führt zwar nicht immer zur Tötung des Kindes, aber wenn „eine Schwangerschaft erst einmal negiert wird, scheint das Leben des Neugeborenen manchmal am seidenen Faden zu hängen“, glauben die Forscher um Rohde.

Die Geburt ist für die Frauen eine Überraschung – da liegt die Gefahr

Wenn sich Alter, Herkunft und soziale Umstände der betroffenen Mütter auch nicht eingrenzen lassen, so haben doch die Wissenschaftler sowohl wie die LKA-Kriminologen Persönlichkeitsmuster ausgemacht, die wiederkehren. Die Frauen, schreiben Rohde und ihre Kollegen, „können nach außen durchaus extrovertiert und selbstbewusst wirken“. Doch sie seien ausgestattet, „mit der ausgeprägten Fähigkeit, unangenehme Dinge auszublenden, Probleme zu verleugnen und sich passiv zu verhalten“. Barbara Ernst spricht von besonders anpassungswilligen, konfliktscheuen Frauen: „Das sind Verdrängungskünstler.“ Selbst wenn sich das im Nachhinein oft als Trugschluss erweise, seien sie überzeugt, der Partner oder die Familie wollten das Kind nicht. Den allermeisten sei zwar ab einem bestimmten Punkt durchaus bewusst, dass sie schwanger sind. „Aber sie vertuschen es – und zwar auch sich selbst gegenüber.“

Und darin seien sie sehr „geschickt“. Für die Veränderungen ihres Körpers fänden die Frauen Erklärungen – sie hätten viel zu viel gegessen, seien in einer aufschwemmenden Hormonbehandlung oder hätten ein Geschwür im Bauch. Diejenigen, die in einer Partnerschaft lebten, so Ernst, hätten sogar meist weiterhin Geschlechtsverkehr wie zuvor. Ohne dass der Mann Verdacht schöpfe. Und auch für sich selbst schieben sie den Gedanken an ein Kind so weit weg wie irgend möglich.

 Barbara Ernst ist Profilerin im LKA Düsseldorf. Sie hilft Ermittlern dabei, nach dem Fund eines toten Babys die Mutter zu finden.

Barbara Ernst ist Profilerin im LKA Düsseldorf. Sie hilft Ermittlern dabei, nach dem Fund eines toten Babys die Mutter zu finden.

Foto: LKA

Und dann setzen die Wehen ein. Für die Frau, die ihre Schwangerschaft vollkommen verneint hat, überraschend. Das ist der Punkt, wo es gefährlich wird. Und schier unglaublich: Laut LKA-Studie waren bei 57 Prozent der untersuchten Mütter andere Personen in der Wohnung, als sie entbanden. Barbara Ernst schildert den Fall eines Mädchens, das laut Eltern mit Magenproblemen auf dem Sofa lag, mal für eine halbe Stunde im Bad verschwand und sich dann zurück auf die Couch legte. Die Jugendliche hatte das Kind zur Welt gebracht und in Panik kurzerhand aus dem Fenster geworfen. In einem anderen Fall sei eine Schülergruppe in ein Eiscafé gegangen, eine von ihnen ging zur Toilette – wenig später wurde eine Babyleiche im Mülleimer entdeckt.

Die beiden Beispiele beweisen laut der LKA-Expertin: „Das ist kein überlegtes Handeln.“ Die Art, wie diese Kinder sterben und gefunden werden, zeigt, dass die Mütter keinerlei Bindung an sie entwickelt haben. „Es ist eine Sache für sie.“ Wenn sie gefasst würden, behaupteten alle Mütter stets, das Kind sei ohnehin tot geboren – was sich freilich rechtsmedizinisch widerlegen lässt. Viele werden in Panik erstickt oder sterben, weil sie schlicht nicht versorgt werden, landen im Müll oder im Gebüsch – wie das kleine Mädchen aus dem Märkischen Kreis, bei dem es haarscharf gut ausging. Viele werden in der eigenen Wohnung oder dem direkten Umfeld versteckt. In einem Beispielfall der LKA-Studie allerdings fuhr die Mutter auch Hunderte Kilometer mit dem Zug, um die Leiche ihres Säuglings verschwinden zu lassen – auch das zeigt laut Ernst: Jeder Fall ist einzigartig.

Oder es trägt sich zu wie Ende des vergangenen Jahres bei Baby „Mia“, das letztlich in Polen zwischen Altkleidern entdeckt wurde, zuvor aber wohl in Duisburg in einen Container geworfen wurde. Die Mutter des Säuglings ist bis heute nicht gefunden, trotz umfangreicher Ermittlungen. Zwischenzeitlich gab es Hinweise auf eine Duisburgerin, bei der eine Schwangerschaft vermutet wurde, die man aber nie mit einem Baby sah. Tatsächlich entdeckte die Polizei in deren Wohnung die Leiche eines Neugeborenen – doch mit dem Fall „Mia“ hatte diese nichts zu tun.

„Der Fall ist bezeichnend“, sagt Barbara Ernst: Die Polizei sucht die Mutter zu einem Neonatizid und deckt zufällig einen anderen Neonatizid auf. Das Dunkelfeld der unentdeckten Taten sei wahrscheinlich sehr groß.

Für die Ermittler bietet der Neonatizid „große Herausforderungen“, sagt die Profilerin: „Man hat ein Opfer, das nirgendwo fehlt.“ Zudem sei es meist nackt, ohne Spuren seiner Herkunft. Hinweise von Zeugen seien oft unerlässlich. Noch schwieriger ist das Thema Prävention. Die Bonner Professorin Anke Rohde und ihr Team halten Babyklappen oder Angebote wie die vertrauliche Geburt nicht für hilfreich – denn sie griffen nur, wenn sich die Mutter mit dem Problem auseinandergesetzt hat. Das hat sie aber in aller Regel gerade nicht. Einzige Hoffnung ist wohl, dass doch jemand in Familie oder Freundeskreis der Frau sich von ihren Ausflüchten nicht abhalten lässt und nachhakt. Laut Rohde finden in Deutschland aber zudem pro Tag im Schnitt vier Frauen mit bis dato negierten Schwangerschaften doch den Weg zu einem Arzt – es sei besonders wichtig, dass die Ärzte sich bei solchen Anzeichen viel Zeit nähmen, um sensibel die Hintergründe zu erfragen.

Die Polizei jedenfalls, da ist Barbara Ernst sicher, wird den ersten Neonatizid niemals verhindern können. Aber vielleicht den zweiten, den dritten. Denn: „Durch unsere Studie ist bekannt geworden, dass es Wiederholungstäterinnen in diesem Bereich gibt.“

Was das schlimmstenfalls bedeutet, wurde vor fast 15 Jahren in einer Gemeinde in Brandenburg offenkundig, als neun Babyleichen in Blumenkästen und -kübeln entdeckt wurden; von der Mutter wohl über Jahre zur Welt gebracht, gleich getötet und versteckt. In ihrem mangelnden Problem- und Konfliktbewusstsein, erklärt Ernst, verhüteten die Frauen einfach nicht, es werde schon gutgehen. Was es nicht tut. „Aber sie haben das Problem ja schon einmal ,gelöst’ – und dann kann man es auch wieder so ,lösen’“, erklärt Ernst. Neonatizid könne so zum erlernten Muster werden, drohende Konflikte einfach verschwinden zu lassen. Deshalb sei es so wichtig, nach dem Fund einer Babyleiche auch die Mutter zu finden. Und deshalb, das haben die Fahnder in Duisburg sehr klar gemacht, liegt der Fall „Mia“ zum Beispiel noch lange nicht bei den Akten.

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