GASTBEITRAG SPD-Landeschef Kutschaty will neuen Mindestlohn von 14 Euro

Exklusiv | Düsseldorf · Welchen Mindestlohn braucht es angesichts der Krisen? Und was muss sich beim Thema Arbeit noch ändern? Thomas Kutschaty, SPD-Vorsitzender in NRW und Fraktionschef im Landtag, antwortet in einem Gastbeitrag.

 Thomas Kutschaty, Vorsitzender der SPD in NRW, macht sich hier ein Bild von der Nachtarbeit am Düsseldorfer Flughafen.

Thomas Kutschaty, Vorsitzender der SPD in NRW, macht sich hier ein Bild von der Nachtarbeit am Düsseldorfer Flughafen.

Foto: SPD

Die Lichter eines Flughafens in der Nacht haben etwas Faszinierendes. Bei ihrem Anblick gerät man leicht ins Nachdenken und Schwärmen. Sie leuchten für die große weite Welt. So weit, so schön – doch wer von uns denkt in solchen Momenten eigentlich an die Menschen, die die Lichter zum Leuchten bringen?

Ihr beeindruckender Einsatz ist oft unsichtbar. Das liegt daran, dass diese Arbeit dann erledigt wird, wenn die Flugzeuge auf dem Boden stehen und im Normalfall Crew sowie Passagiere alle im Bett sind: in der Nacht. Die Flughafenarbeiter teilen damit das Schicksal der Anonymität mit mehreren Hunderttausend Menschen in Nordrhein-Westfalen, die eben dann arbeiten, wenn alle anderen schlafen. Dabei werden in der Nachtarbeit zentrale Aufgaben unserer Gesellschaft verrichtet. Sie fällt dort an, wo Menschen in Not sind, man sich um andere kümmert, die Produktion nicht stillstehen darf, Sicherheit organisiert oder für alle anderen der Start in den Tag vorbereitet wird.

Wir reden viel zu wenig darüber. Und auch in den öffentlichen Debatten liest man wenig über die Herausforderungen der Menschen, die nachts arbeiten. Wer zu der Zeit arbeitet, muss am Tag Schlaf nachholen und sich um Familie und Freunde kümmern. Da bleibt nicht viel Zeit für andere Dinge wie Parteipolitik oder Gewerkschaftskonferenzen. Ich jedenfalls kenne nur sehr wenige Kolleginnen und Kollegen in der Politik, die regelmäßig nachts gearbeitet haben. Ich kenne aber auch nur sehr wenige, die auf einer Baustelle oder an der Kasse gearbeitet haben. Neben denen, die auf Nachtschicht sind, gibt es also noch eine ganz Reihe von Berufsgruppen, die unterrepräsentiert sind. Für unsere Demokratie stellt sich somit die Frage: Wer vertritt eigentlich die Unvertretenen?

Wenn man die Probleme der Bevölkerung in unserem Land angehen will, muss diese Frage einen noch höheren Stellenwert als bislang bekommen. Denn dort, wo Anonymität herrscht, bekommen viele Menschen nicht das, was ihnen zusteht. Ich bin Sozialdemokrat. Gerade meine Partei ist seit jeher aufgefordert, alles dafür zu tun, dass Arbeiterinnen und Arbeiter ihre Interessen durchsetzen können. Dafür braucht es gesetzliche, finanzielle und zeitliche Voraussetzungen, die mit der Gegenwart mithalten. In Zeiten, in denen die Herausforderungen immer größer werden, gilt dies noch viel mehr als sonst.

So konnten wir in diesem Jahr den Mindestlohn auf zwölf Euro pro Stunde erhöhen. Wer die Diskussionen der vergangenen Jahre verfolgt hat, erkennt, was für ein großer Erfolg damit verbunden ist. Denn der neue Mindestlohn gibt Millionen von Menschen mehr Luft. Doch die Entscheidung wurde getroffen, noch bevor die Krisen des Jahres den Leuten ins Portemonnaie geschlagen haben. Viele, die schon damals nicht so viel in der Tasche hatten, bedanken sich.

Sie sagen aber auch, dass es nach der Kostenexplosion eigentlich mindestens 14 Euro pro Stunde bräuchte, um im Alltag klar zu kommen. Diese Stimmen gilt es wahrzunehmen. Sie sind eine klare Aufforderung an Arbeitgeber und Gewerkschaften, im Bereich der niedrigen Löhne deutlich für weitere Entlastungen zu sorgen. Sonst wird schon bald wieder der Gesetzgeber gefragt sein, dieses Interesse durchzusetzen. Die Zukunft nimmt wenig Rücksicht auf diejenigen, die Denkmäler errichten.

Wer seine Interessen organisieren möchte, braucht neben Geld auch Zeit und ein gesundes Maß an Geduld. Denn viele Arbeitnehmende fremdeln mit den Ritualen des politischen Betriebs. Da wird zu sehr eine ganz eigene Sprache gesprochen und es geht zu viel ums Rechthaben und zu wenig ums Recht bekommen. Parteien, Verbände, Gewerkschaften, Vereine und Kirchen stehen auch deshalb vor der großen Herausforderung, dass sie sich im Zuge sinkender Mitgliedszahlen etwas Neues einfallen lassen müssen.

Die Zahl der Unvertretenen wird dadurch größer. Da gilt es gegenzusteuern. Bei der Tarifbindung ist weiter Luft nach oben und dafür müssen mehr Menschen einbezogen werden. Umso wichtiger wird die Vertretung der eigenen Interessen dort, wo man gute Kolleginnen und Kollegen hat, man täglich vor Ort ist und wo man die Abläufe am besten auskennt – im eigenen Betrieb.

Da gilt es eine Lanze zu brechen. Ich erfahre bei vielen Besuchen, dass das gemeinsame Miteinander an ganz vielen Arbeitsstätten funktioniert. Das macht unser Land wirtschaftlich und in seiner Haltung stark.

Umgekehrt ist allerdings so, dass überall dort, wo Menschen ausgenutzt werden, als erstes ihre Mitbestimmung gekappt wird. Dort wird dann bei den Arbeitszeiten getrickst, mit Jobverlust gedroht und die Löhne gedrückt. Wir sehen dies zum Beispiel in Zustellbetrieben der Plattformökonomie. Arbeiterinnen und Arbeiter, die sich in einem Betriebsrat organisieren wollen, werden zum Teil ausspioniert, bedroht und gekündigt. Wer den Unvertretenen eine Stimme geben will, muss diese Entwicklungen stoppen und klare gesetzliche Verhältnisse schaffen.

Die Verhinderung von Betriebsratsgründungen ist zwar schon heute eine Straftat, wird aber zu häufig als Kavaliersdelikt gewertet. Deshalb ist es richtig, dass die Ampel in Berlin in ihrem Koalitionsvertrag festgehalten hat, dass der Staat noch entschlossener gegen Betriebsratsverhinderungen vorgeht.

Sie sollen in der Strafverfolgung künftig als „Offizialdelikt“ eingestuft werden. Das bedeutet, dass Behörden bereits ermitteln müssen, wenn sie Kenntnis über Missstände erhalten und nicht erst dann, wenn Geschädigte Anzeige erstatten. Zudem kommen diejenigen, die systematisch Missbrauch betreiben, nicht mehr mit Geldstrafen in Peanuts-Höhe davon, sondern müssen in letzter Konsequenz mit weitaus drastischeren Strafen rechnen.

Gerade für die vielen Unternehmen, in denen Arbeitgeber und Arbeitgeber gemeinsam auf das Betriebswohl achten, macht der Staat damit gerade in herausfordernden wirtschaftlichen Zeiten die Spielregeln klar. Nun liegt es an uns, dieses Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag gesetzlich umzusetzen.

Interessen vieler Familien
kommen zu kurz

Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist ein weiteres Thema, das es anzupacken gilt, um die Interessen der Unvertretenen der Arbeitswelt sichtbarer zu machen. Bis zur Ära Kohl und auch lange unter Schröder war Deutschland in diesem Bereich ein Entwicklungsland. Trotz auch deutlicher Verbesserungen in den vergangenen zwei Jahrzehnten ist nach wie vor vieles aufzuholen. Besonders dort, wo unbezahlte Pflegearbeit geleistet wird, kommen die Interessen vieler Familien zu kurz. So fallen etwa viele Eltern, die sich um ein Kind mit Behinderung kümmern müssen, durch die Raster unseres Sozialstaats. Wenn sie nun im Rahmen einer Petition Sonderurlaubstage einfordern, eben weil sie arbeiten möchten, dann rate ich uns in Zeiten des Fachkräftemangels, diese Forderung sehr ernst zu nehmen und neue Lösungen zu entwickeln.

Sich bei ernsthaften Argumenten gegenseitig ernst zu nehmen, ist für unser demokratisches Miteinander eh eine Grundsätzlichkeit. Doch die Ausgangsfrage geht tiefer. Wer vertritt nun also die Arbeiterinnen und Arbeiter?

Meine Antwort: Sie sind es nach wie vor selbst. Wir in der Politik, in den Parteien, Verbänden, Gewerkschaften, Vereinen und Kirchen sind allerdings mehr als bislang aufgefordert, neue Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass ihre Stimmen in den öffentlichen Debatten wieder stärker wahrgenommen werden – sei es gesetzlich, finanziell, organisatorisch oder zeitlich. Denn hinter jedem Licht, das leuchtet, steht eine Person, die mit ihrer Arbeit dafür sorgt. Wir alle möchten, dass das so bleibt.

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