Umarmen an der „Haltestille“

Aktion: Eine junge Frau wagt ein Experiment. Sie bietet Passanten einen Moment der Nähe an.

Mönchengladbach. Claudia L. hatte eine weihnachtliche Idee. „Ich nehme mir an einem Vormittag Zeit für die Menschen, die durch die Stadt hasten, schenke ihnen diese Zeit — und eine Umarmung.“

Das ist alles andere als eine Sektlaune oder Schnapsidee. Den Auslöser dafür fand sie bei einem typischen Smalltalk in einem Geschäft, kurz vor dem vierten Advent. Aus belanglosen Worten zwischen der Verkäuferin und den beiden Kundinnen wurden bald kurze Lebensgeschichten. „Und da habe ich gemerkt, diese fremde Frau da neben mir, die hat etwas ganz Ähnliches erlebt wie ich, die ist auch niedergeschlagen, möchte sich aber nach außen hin stark zeigen.“

Spontan nahm die dreifache Mutter ihr Gegenüber in den Arm und hielt die Fremde einfach einen Moment lang fest. „Wir haben beide gespürt, dass das gut tut, und ich bin sehr nachdenklich nach Hause gefahren“, sagt sie.

Und da war die Idee geboren, in die Innenstadt zu kommen. Claudia L., die ihren vollen Namen aus familiären Gründen nicht nennen möchte, hat eine „Haltestelle“ oder auch „Haltestille“, wie es auf der Rückseite ihres Plakats steht, eingerichtet. „Eine Haltestelle hat ja etwas mit Warten zu tun, damit, Zeit irgendwo zu verbringen, um dann zu einem Ziel zu kommen“, erklärt sie. Die doppelte Wortbedeutung von „Halten“, nämlich nicht anhalten, sondern jemanden halten, ihm Geborgenheit geben, spiele aber genauso da hinein.

Es ist hektisch in der Gladbacher Innenstadt. Claudia L. baut ihr Schild auf und wartet. Sie sieht in die Gesichter der vorbeihastenden Menschen. Die meisten sind angespannt. Sie hat sich entschlossen, nicht von sich aus auf die Menschen zuzugehen und sie anzusprechen, sondern abzuwarten, wer sich durch das gut sichtbare Haltestellenschild angesprochen fühlt.

Zunächst passiert nicht viel. Ein paar Passanten laufen fast vor das Schild und weichen erst im letzten Moment aus. Die meisten aber gehen so, als ob es eine unsichtbare Linie auf dem Boden gebe, die sie zwinge, genau so weit um das Schild herumzugehen, dass sie auf keinen Fall angesprochen werden können. „Wann kommt denn nun der Bus?“, fragt ein älterer Mann lachend. Doch bevor L. ihm eine Antwort geben kann, ist er schon weitergegangen.

Johannes und Claudia Hürckmans sind die ersten, die stehen bleiben. Claudia Hürckmans hat den Sinn der Aktion schnell begriffen und nickt anerkennend. „Manchmal braucht man genau das“, sagt auch Passantin Ulrike Vlk und lässt sich von Claudia L. herzlich umarmen.

Die Gedrückte ist Lehrerin an einer Grundschule. Auch sie beobachtet die fehlende Nähe der Menschen untereinander und ermuntert Claudia L. weiterzumachen. Aber viele andere Einkäufer bleiben skeptisch, nesteln im Vorbeigehen an der Tasche oder drücken demonstrativ das Handy ans Ohr. „Sie werden nicht erfahren, was ihnen entgeht“, sagt eine junge Frau, die das Ganze beobachtet.

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