Seuchengeschichte Medizinhistoriker über Seuchen: „Die Sinngebung erfolgt hinterher“

Seuchen gab es schon immer. Welche Parallelen es zu heute gibt, erklärt der Medizinhistoriker Heiner Fangerau.

 Im Camp Funston (Kansas, USA) liegen 1918 mit der Spanischen Grippe infizierte Soldaten in einem Notfall-Krankenhaus

Im Camp Funston (Kansas, USA) liegen 1918 mit der Spanischen Grippe infizierte Soldaten in einem Notfall-Krankenhaus

Foto: imago images/ZUMA Press/National Museum Of Health via www.imago-images.de

Herr Fangerau, Seuchen gibt es seit Anbeginn der Menschheit, beispielsweise Pest, Cholera oder die Spanische Grippe. Wie ist die aktuelle Corona-Pandemie historisch einzuordnen?

Fangerau: Solche Seuchenzyklen tauchen immer wieder auf. Die Idee, man hätte Infektionskrankheiten eingedämmt, ist eine Fehlwahrnehmung der nördlichen Hemisphäre. Man hat sich in den Industriestaaten mit der Idee eingerichtet, mit den Hygienemaßnahmen aus dem 19. Jahrhundert – also mit der Sanierung der Städte und dem Ausrotten der Pocken – hätte man alle Infektionskrankheiten im Griff. Auf der südlichen Welthalbkugel gibt es diese Wahrnehmung nicht. Dass es jetzt so kommt, wie bei der Hongkong-Grippe oder bei der Spanischen Grippe im 20. Jahrhundert ist trotzdem überraschend. Die Schweinegrippe, Ehec und die Vogelgrippe sind in Deutschland glimpflich abgelaufen. Das hat den Eindruck erzeugt, dass man das immer so hinkriegt.

Welche Parallelen beim Verlauf des aktuellen Coronavirus gibt es zu vorherigen Pandemien?

Fangerau: Wenn man sich ein bisschen vereinfacht die Seuchenentwicklung anguckt, dann durchleben wir genau die Phasen, die wir auch beispielsweise bei den Cholera-Pandemien im 19. Jahrhundert beobachten können. Aus der deutschen Perspektive ist die Seuche erst einmal weit weg. Wenn man Berichte liest, so scheint hier die erste Reaktion immer zu sein: Betrifft uns nicht. Dann rollt die Infektionswelle näher und Politiker überlegen, ob man Maßnahmen ergreifen sollte. Handelsstädte könnten zum Beispiel ihre Tore schließen. Oft ist dann die Reaktion: Die Krankheit ist zwar nähergekommen, aber betroffen sind eigentlich nur Randgruppen. Und dann kommt die dritte große Phase, wenn die Pandemie zuschlägt: Nun heißt es, oh Gott, jetzt gibt es diese Krankheit auch bei uns, was machen wir jetzt? Die öffentliche Wahrnehmung schwankt dann zwischen Beschwichtigung, „Trink einen Schnaps und leg dich ins Bett“ auf der einen Seite und dem großen „Wir werden alle sterben“-Katastrophenszenario auf der anderen Seite. Das führt dann in der Regel zum Lahmlegen der öffentlichen Ordnung. Was ja eine rationale Maßnahme ist. Nur hat jede Maßnahme Folgen. Schlimm ist für viele gar nicht mehr die Pandemie, sondern die gesellschaftliche und politische Bedrohung, unter der sie jetzt leben. Komme ich morgen noch nach Hause, hat meine Familie was zu essen, schafft es, die Polizei mich zu schützen, wenn etwas passiert? Ganz banale Überlegungen, die wir sonst am Tag eigentlich nicht denken.

Durch die globale Verbundenheit verbreitet sich das Coronavirus rasend schnell. In vorherigen Zeiten zogen die Seuchen langsamer um den Globus. Welche Rolle spielt die Globalisierung?

Fangerau: Globalisierung gab es auch schon früher durch Handel, Krieg und Kolonialismus. Wenn man sich anguckt, was in Amerika die indigene Bevölkerung ausgerottet hat, dann waren das zum großen Anteil Krankheiten, die Europäer dort eingeschleppt haben. Auch das ist Globalisierung gewesen. Nur Zeit und Raum sind heute geschrumpft.

Eine Epidemie kann alle Gewohnheiten in den Schatten stellen. Zeigt uns das, wie fragil unsere Gesellschaft ist?

Fangerau: Auf der negativen Seite zeigt es, wie fragil unser zivilisatorisches Potenzial ist. Wenn man daran denkt, wie Menschen miteinander umgehen: Italien wird stigmatisiert, Heinsberg, als Herd des Unheils in Deutschland verunglimpft. Es gibt Bilder, wie Leute sich um Klopapier schlagen oder rücksichtslos Masken wegkaufen, um damit Wucher zu treiben. Alles das zeigt, wie dünn unsere sozialethische Schicht ist. Auf der anderen Seite sieht man aber auch, wie viel Sorge die Menschen füreinander wahrnehmen. Nachbarn kaufen füreinander ein, Kinder sprechen über facetime mit ihren Großeltern. Was vergangene Pandemien aber doch zeigen, das macht Mut und Hoffnung. Die Menschen sind für Aufklärung und Vernunft viel empfängnisbereiter als man immer denkt. Je mehr diese Vernunft funktioniert, desto besser funktioniert die gegenseitige Solidarität.

Politische Streitigkeiten sind völlig in den Hintergrund getreten. Manche Themen, die sonst breit diskutiert worden wären, werden zur Randnotiz, beispielsweise wer wohl CDU-Vorsitzender wird.

Fangerau: Ich glaube, das sind auch mediale Mechanismen, die Skandalisierung. Das liegt aber nicht an den Medien, sondern daran, was die Leute lesen wollen. Sie setzen somit auf die Lust an der Apokalypse. Es werden Bilder hervorgerufen, die man aus (pop-)kulturellen Darstellungen von Pestzügen oder anderen Seuchen im kollektiven Gedächtnis trägt. Im Film gibt es zum Beispiel das Zombiegenre, das sich gewandelt hat von den Untoten, die einstmals das Fremde symbolisierten, hin zu klassischen Outbreak-Virusgeschichten. Hier setzen aktuelle Bilder an. Jeden Tag lesen wir die neuen Infektionszahlen, beobachten die neusten Entwicklungen live im Ticker. Das funktioniert, weil die Leute darauf anspringen. Ferner betrifft das Virus erst einmal unmittelbar jeden in seinem nun eingeschränkten Leben. Wer CDU-Vorsitzender wird, betrifft hingegen momentan nicht jeden. Vielleicht später einmal, wenn die Politik gemacht wird. Aber wenn das öffentliche Leben lahmgelegt wird, die Straßenbahnen nicht mehr fahren und ich nichts mehr kaufen kann – das ist vor Ort, das ist privat, das interessiert unmittelbar. Alles andere rückt in den Hintergrund. Hier droht auch eine riesige Gefahr: Mit dem Infektionsschutzgesetz können Grundrechte außer Kraft gesetzt werden. Wenn sich die Leute aber nun voll auf das fokussieren, was mit der Pandemie vor ihrer Haustür passiert, übersehen sie die Gefahr, dass politisch Dinge umgesetzt werden, die Demokrat/-innen vielleicht gar nicht wollen. Wenn es keine Versammlungsfreiheit mehr gibt, können Menschen nicht mal mehr für ihre Rechte demonstrieren. In Deutschland schützt der Föderalismus ein wenig vor zu vielen zentralstaatlichen Eingriffen. Aber man muss angesichts der aktuellen Entwicklungen gar nicht so viel Phantasie investieren, um sich Konstellationen vorzustellen, in denen so eine Situation auch ausgenutzt werden könnte im Sinne eines Staatsstreichs.

Wie haben Menschen früher gelernt, damit zu leben und was kann man daraus auf heute schließen?

Fangerau: Im Mittelalter ist beispielsweise ein ganz eigenes Kunstmotiv entstanden. Der Totentanz. Hier wird bildlich immer wieder verdeutlicht, dass der Tod jeden holt. Jeder Mensch hat Angst vor dem Tod, aber in der Wahrnehmung ist die Idee von dem Tod nach den Pestzügen eine andere als vorher. Aktuell und hier bei uns wäre meine Prognose: Das Coronavirus verschwindet nicht mehr, es wird uns für immer begleiten, aber es wird – wie andere Viren und Bakterien – in den Hintergrund treten, wenn wir durch neue Medikamente darauf vorbereitet sind. Die Cholera zum Beispiel sind wir heute in den westlichen Industriestaaten weitgehend losgeworden. Das hängt eng damit zusammen, dass die Kommunen ihre Trinkwasserversorgung geordnet und Städte saniert haben. Die Malaria wiederum ist momentan aus Deutschland so gut wie verschwunden, weil man Sümpfe trockengelegt hat. Aber der Drops ist noch nicht gelutscht. Klimaveränderungen führen ebenfalls dazu, dass Krankheiten ihr Profil ändern, verstärkt auftreten oder ganz verschwinden. Meine Prognose ist, dass der Klimawandel Deutschland noch einmal vor ganz neue gesundheitliche Herausforderungen stellen wird.

Aktuell werden wir dazu aufgefordert, soziale Distanz zu halten. Wird diese soziale Distanz auch Auswirkungen auf das spätere Miteinander der Menschen haben?

Fangerau: Wenn die Zahlen der Neuinfektionen zurückgehen, dann wird das öffentliche Leben zurückkommen. Hoffe ich. Eine Lehre aus der Geschichte ist, dass man den Umgang mit der Erkrankung vergessen wird. Die Chance ist hoch, dass wir in zehn Jahren auf diese Zeit als Anekdote zurückblicken, wenn die Politik und die Menschen besonnen bleiben.

Es gibt bereits viele Verschwörungstheorien zum Coronavirus. Eine besagt beispielsweise, dass man damit das Bargeld abschaffen wolle.

Fangerau: Verschwörungstheorien sind ein Klassiker in der Seuchengeschichte. Warum? Erst einmal sind die einleuchtend aus einer bestimmten Perspektive und sie geben einer Seuche einen Sinn.

Haben Seuchen oder Pandemien denn einen Sinn? Zum Beispiel die Bevölkerung zu dezimieren?

Fangerau: Die Sinngebung erfolgt immer erst hinterher und immer nach Interpretation durch Menschen. Die Idee, dass eine Seuche einen Sinn machen kann, kann in erster Linie religiös überformt sein. Im Mittelalter glaubte man etwa daran, dass zum Beispiel eine Seuche von Gott gesandt wurde, um die Menschen für ihre Sünden zu strafen. Aber auch das ist eine menschliche Sinngebung. Ferner gibt es heute biologistische Sinngebungen, die die ganze Menschheit als Organismus beschreiben wollen. Hier wird dann der Sinn in demografischen Verschiebungen gesucht. Oder es gibt eine Sinngebung, die sagt, dass das Virus die befreite Natur repräsentiert, die der technisierten Welt zeige, dass sie nicht beherrschbar sei. Welche Sinngebung die richtige ist, kann ich nicht sagen, ich wäre vorsichtig damit, zu viel in das biologische Phänomen hinein zu interpretieren und würde eher dazu raten, die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen im Auge zu behalten.

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