Missbrauchsfall Lügde: Zahl der Opfer kratzt an 50 - Datenträger womöglich bewusst entfernt

Düsseldorf · 34 Betroffene des Missbrauchs sind ermittelt, bei 14 weiteren besteht ein Verdacht. Innenminister Reul berichtet zudem neue Enthüllungen aus der Polizei Lippe.

 14.03.2019, Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf: Herbert Reul (CDU), Innenminister von Nordrhein-WSestzfalen, kommt mit Unterlagen zu der Sitzung des Innenausschusses des Landtages Nordrhein-Westfalen. Der Innenausschuss des Landtags befasst sich erneut mit dem Fall des vielfachen Kindesmissbrauchs von Lügde und dem folgenden Polizeiskandal. Foto: Federico Gambarini/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

14.03.2019, Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf: Herbert Reul (CDU), Innenminister von Nordrhein-WSestzfalen, kommt mit Unterlagen zu der Sitzung des Innenausschusses des Landtages Nordrhein-Westfalen. Der Innenausschuss des Landtags befasst sich erneut mit dem Fall des vielfachen Kindesmissbrauchs von Lügde und dem folgenden Polizeiskandal. Foto: Federico Gambarini/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Foto: dpa/Federico Gambarini

„Es wird immer haarsträubender. Der Sumpf wird immer tiefer.“ Mit diesen Worten bilanziert SPD-Mann Hartmut Ganzke am Donnerstagnachmittag die Sitzung des Innenausschusses im Landtag und meint die Spirale an Enthüllungen, die eine immer größere Dimension des Kindesmissbrauchs auf dem Campingplatz in Lügde zu Tage fördert – aber auch ein stetig wachsendes Ausmaß des Polizeiskandals.

Die Zahl der Opfer, die von den bislang sieben Beschuldigten missbraucht und gefilmt wurden, stieg im Rahmen der Ermittlungen erneut: „34 Opfer wurden sicher festgestellt“, erklärt Innenminister Herbert Reul (CDU) im Ausschuss – bisher war von 31 die Rede gewesen. Zudem gebe es weitere 14 Verdachtsfälle, die noch nicht abschließend befragt worden seien. Damit läge die Zahl der möglichen Betroffenen bei fast 50. Und Reul meint: „Die Zahl steigt mit hoher Wahrscheinlichkeit noch an.“

Diese Aussage erklärt sich mit Blick auf die enorme Datenmenge, die von den Ermittlern ausgewertet wird – die Besondere Aufbauorganisation (BAO) beim Polizeipräsidium Bielefeld zählt derzeit 60 Beamte, 24 IT-Spezialisten sind für die Auswertung zuständig: Rund 3,3 Millionen Bilder und mehr als 86 000 Videos haben sie auf dem Tisch; bislang bearbeiten sie laut Reul 494 Ermittlungsspuren Dennoch resultierten die bisherigen Erkenntnisse über Betroffenenzahlen noch immer vorwiegend aus den Untersuchungen der Polizei Lippe. Auch deshalb glaubt der Minister an eine weitere Steigerung der Zahlen: „Die BAO ,Eichwald‘ arbeitet sich Schritt für Schritt weiter durch die unstrukturierten Akten.“ Es seien immerhin 3000 Seiten – und offensichtlich völlig durcheinander.

Längst gibt es aber nicht nur Vorwürfe des schludrigen Arbeitens gegen die örtliche Polizei: In Zusammenhang mit den verschwundenen 155 Datenträgern aus einem Raum der Polizeibehörde habe die Staatsanwaltschaft Detmold am 6. März ein Strafverfahren gegen Unbekannt wegen Diebstahls eröffnet. „Es besteht somit nach jetziger Erkenntnislage der Verdacht, dass die fehlenden Asservate bewusst entfernt wurden“, so Reul.

Leitender Ermittler soll schon mal Beweise „verloren“ haben

Insofern ist eine weitere neue Enthüllung besonders pikant: Der zeitweilige Leiter der Ermittlungskommission in Lippe könnte bereits in anderen Ermittlungsverfahren Asservate beiseite geschafft haben. Der von Reul neu eingesetzte Leiter der Direktion Kriminalität bei der Kreispolizei vor Ort hat Strafanzeige gegen den Beamten gestellt – wegen des Verdachts auf Strafvereitelung im Zusammenhang mit einem anderen angeblichen Sexualdelikt sowie auf Verstrickungsbruch. Sowohl 2015 als auch 2016 seien Asservate in den Verfahren nicht mehr aufzufinden gewesen. Und: Der Mann war Tutor des Kommissaranwärters, der die 155 CDs hatte sichten sollen. Er wurde vorläufig des Dienstes enthoben. Könnte er mit dem Verschwinden der Beweismittel zu tun haben? „Die Vermutung liegt nahe“, sagt Reul.

Der Minister äußert sich auch zu dem bereits zuvor bekannt gewordenen Fall eines Polizisten aus der Kreispolizeibehörde Lippe, der 2011 wegen des Besitzes und Verschaffens von Kinderpornografie verurteilt worden war. Zwar, so Reul, war der Beamte nicht in die Lügde-Ermittlungen eingebunden. Dennoch habe er, nachdem er am 27. Februar von dem Fall erfahren habe, nachgehakt, warum der Mann dort noch im Dienst ist. Die zuständige Behörde habe seinerzeit die Entlassung beantragt, das Gericht aber nur die zweithöchste Strafe – eine Degradierung und Versetzung – beschlossen. Nicht die einzige angebliche Verfehlung von Beamten der Polizeibehörde: 2011 habe ein Beamter in seinem Badezimmer heimlich eine Videokamera installiert – gegen ihn wurde Strafbefehl erlassen und ein Disziplinarverfahren eingeleitet; 2013 soll ein Tutor eine Kommissaranwärterin belästigt haben – das Strafverfahren wurde gegen Zahlung einer Geldauflage eingestellt.

Insbesondere der Kinderpornografie-Fall habe Reul dazu bewegt, in den Polizeibehörden im Land nach ähnlichen Fällen im Zusammenhang mit Kindesmissbrauch und Kinderpornos zu recherchieren: Dem Ergebnis zufolge gebe es 16 ähnliche Fälle; bis auf den Beamten in Lippe sei aber keiner der betroffenen Polizisten mehr im Dienst. Er lasse nun prüfen, ob man generell über eine striktere Entfernung aus dem Dienst in solchen Fällen nachdenken müsse, so Reul: „Ich habe da eine klare Meinung.“

SPD: Eine „große, große Gefahr“ für die Verfolgung der Taten

Betroffen zeigt sich der Minister über Anfeindungen, welche Polizisten und speziell jene in der Kreispolizeibehörde Lippe seit den Enthüllungen um die Pannen erdulden müssen. Die Aurarbeitung sei für sie eine herbe Belastung: „Ich weiß das – aber ich sehe keine Alternative“, sagt Reul.

Kritik muss der Minister von Verena Schäffer (Grüne) dafür einstecken, dass er erst Ende Januar, anderthalb Monate nach Bekanntwerden des Missbrauchs auf dem Campingplatz, die Ermittlungen an das Polizeipräsidium Bielefeld übertrug. Reul verweist darauf, die Polizeibehörde in Lippe habe auf permanentes Nachhaken stets beteuert, alles selbst zu schaffen. Das allerdings lässt Schäffer nicht gelten, die Fachaufsicht habe letztlich eben das Innenministerium: „Sie machen es sich zu einfach.“

SPD-Mann Ganzke sieht „eine große, große Gefahr“, dass es durch die Ermittlungspannen Schwierigkeiten bei einer konsequenten Strafverfolgung geben könnte. „Das sind Risiken, ist doch klar“, räumt Reul auf Nachfrage unserer Zeitung ein. Die Anwälte der Beschuldigten würden die Lücken in der Aufklärungsarbeit ausnutzen. Allerdings hätten die Strafverfolger nach wie vor eine Vielzahl an Beweisen und Zeugen an der Hand, so der Minister: „Ich habe den Eindruck, die haben genug.“

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