Interview „Zuhören hängt nicht an Lautstärke“

Tönisvorst · Tönisvorsts Bürgermeister Thomas Goßen (CDU) will wiedergewählt werden. Mit der WZ sprach er über die Stadt und seine Konkurrenz.

 Zum Interview kam Tönisvorsts Bürgermeister Thomas Goßen zur WZ-Redaktion nach Kempen.

Zum Interview kam Tönisvorsts Bürgermeister Thomas Goßen zur WZ-Redaktion nach Kempen.

Foto: Lübke, Kurt (kul)

. 2009 folgte er Albert Schwarz im Amt des Bürgermeisters von Tönisvorst. Seit elf Jahren steht Jurist Thomas Goßen (50) an der Spitze der Stadtverwaltung. Die CDU hat ihn als ihren Kandidaten für eine dritte Amtszeit nominiert. Was ihn antreibt, wie er seine Aufgabe versteht und was er zu seinen Herausforderern – neuen und altbekannten – sagt – darüber spricht Goßen im Interview mit der WZ.

Herr Goßen, ziehen Sie doch einmal Bilanz Ihrer zweiten Amtszeit in Tönisvorst. Drei Vorlagen: Was lief gut, was schlecht? Was blieb liegen?

Thomas Goßen: Gut, wirklich sehr gut lief die Integration von Flüchtlingen. Wenn man sich erinnert: Sehr kurz nach der Kommunalwahl 2014 kam das große Thema der Unterbringung von Flüchtlingen auf uns zu. Die Integration ist uns als Stadtgemeinschaft sehr gut gelungen. Mit vielen Beteiligten. Wir hatten einen klaren Kurs, den wir – woher der Wind auch gerade wehte – auch nicht haben korrigieren müssen: Wer zu uns gekommen ist, ist herzlich willkommen. Aber es gelten für die, die zu uns kommen, wie auch für die, die schon lange da sind, die gleichen Spielregeln, die gleichen Anforderungen, das gleiche Fundament, das unser Grundgesetz letzlich bildet. Auf dieser Basis helfen wir gerne, haben aber auch eine klare Erwartungshaltung, die wir durchsetzen. Das hat sehr gut funktioniert. Und so haben wir in diesem Jahr schon einen ersten großen Wahlerfolg, dass nirgendwo AfD und Co. aufgelaufen sind, dass es keinerlei extreme politische Kräfte in Tönisvorst gibt. Weil wir das gut und konsequent abgewehrt haben. Dazu habe ich auch meinen Teil beigetragen.

Was lief schlecht?

Goßen: Keine Frage, bei manchem hätte ich mir gewünscht, dass es schneller geht. Ob es das Thema Verwaltungsgebäude ist oder manche Themen im planerischen Bereich. Da tun sich manchmal Schwierigkeiten und Konflikte auf und da tut sich in den großen Paketen, die wir gerade bewältigen, eine Fülle an Arbeit auf. Das vor dem Hintergrund, dass in einer relativ kleinen Kommune, wie wir es sind, gerade im technischen Bereich die Manpower begrenzt ist und es schwierig ist, die entsprechende Auftragslage draußen in der Wirtschaft zu finden, bei Architekten und Unternehmen. Da sind wir ein verhältnismäßig „kleiner Laden“. Irgendwann sind die Ressourcen dann auch endlich.

Was treibt Sie persönlich an, eine dritte Amtszeit anzustreben?

Goßen: Diese langfristigen Linien zu setzen. Die Geduld zu haben, etwas wachsen zu sehen. Diese Geduld bringe ich grundsätzlich mit. Es gibt einige Themen, da wird erst noch richtig etwas draus. Die Fundamente sind gelegt. Sie sind nicht immer spektakulär, aber sie sind da. Und das weiter zu entwickeln, reizt mich. Nehmen wir das Beispiel Stadtentwicklungskonzept 2035 (Stek) Tönisvorst. Wenn wir Corona nicht hätten, wären wir da natürlich in der Bürgerbeteiligung schon viel weiter. Aber man kann erste kleine Themen sehen, die sich daraus entwickeln. Etwa die Gestaltung der Innenhöfe in St. Tönis, wo wir jetzt auf die Nachbarn zugehen, wo es Ideen gibt, wie Urban Gardening im Brauereihof oder die Musikveranstaltungen am Wochenende im Seulenhof, die wir gerade erleben. Es wird im Kleinen schon sichtbar, dass was geht. Das Stek hat die Aufgabe, die Zielrichtung zu bestimmen. An Politik und Verwaltung ist es, dazu dann Fördermittel zu organisieren.

„Stek 2035“ steckt nach vielversprechenden Ansätzen durch Corona also etwas fest. Dabei sollen Bürger ihre „Apfelstadt neu denken“. Wie denken Sie Tönisvorst neu?

Goßen: Das Konzept macht die Beteiligungsmöglichkeit auf und hat die Aufgabe, die Ideen aus der Bürger-Beteiligung zu bündeln. Wir haben dazu vereinbart, uns auf politischer Seite bewusst erst einmal zurückzuhalten, um den Input in der Breite aus der Bürgerschaft zu bekommen. Es hat zäh angefangen, aber dann an Fahrt aufgenommen. Da sind vielfältige Ansätze und Anregungen dabei, etwa die Frage, warum die Schlufftrasse diesseits und jenseits der Düsseldorfer Straße endet.

Die CDU sagt, sie mache den Bürgern mit Ihnen „ein kompetentes und verlässliches Personalangebot“. Ihre Herausforderer sprechen Ihnen direkt und indirekt die Fähigkeit ab, auf Menschen und Vereine zuzugehen. Sie würden nur verwalten, statt gestalten. Was entgegnen Sie?

Goßen: Das gehört letztlich zum Wahlkampf, dass man Attribute oder Etiketten verteilt. Ich sag mal salopp: Wenn man die Rampensau haben will – dann bin ich das ganz klar nicht. Das wäre auch nicht authentisch. Zuhören hängt nicht an Lautstärke. Zuhören muss man auch denen, die sich nicht immer am lautesten und schnellsten oder deutlichsten artikulieren können. Bürgerbeteiligung wird von mir großgeschrieben. Wir müssen alle mitnehmen. Mit dem DRK stehe ich einem Verein mit 800 Ehrenamtlern vor, bin dort selber als Ehrenamtler mit vielen im Gespräch. Zu vielen Vereinen stehe ich in regelmäßigem Kontakt. Gerade erst gab es Treffen mit dem Martinskomitee und in den Karneval hinein, mit dem Bürgerbusverein und, und, und.

Apropos Etiketten verteilen, welche hätten Sie für Ihre Mitbewerber?

Goßen: Ich habe in meinen Wahlkämpfen bisher keine Etiketten verteilt. Zu Uwe Leuchtenberg und Michael Lambertz möchte ich sagen, dass wir seit vielen Jahren jenseits von Wahlen miteinander arbeiten. Ich weise einfach mal auf die Statistik hin: Wir haben über 90 Prozent der Beschlüsse einvernehmlich getroffen.

Wie steht die Tönisvorster Verwaltung zurzeit da? Fachkräftemangel, vakante Stellen? Fluktuation der Mitarbeiter?

Goßen: Es gibt bei uns das Thema Personalentwicklungskonzept, das Kollege Schaath federführend bearbeitet und begleitet. Wir haben, was Personalbedarfe angeht, in den Bereichen IT und Organisation nachgesteuert. Digitalisierung beansprucht Ressourcen. Die Stellen dort sind bis auf eine besetzt. Auch im Bereich Technik hat es Erfolge gegeben. Da können wir nicht selber den Ingenieur ausbilden, haben aber immer wieder nachgefasst und sehen Erfolge. Auch im Tiefbau konnten wir Stellen besetzen, im Bereich Planung, bei Erziehern und Erzieherinnen und, und, und. Das sind keine Selbstläufer und es dauert. Wir halten alle Kibiz-Vorgaben sauber ein. Weil wir auch seit Jahren Fördermittel in Personal umwandeln. Denn wir sagen: Personal ist das Beste, was einer Kita passieren kann. Was die Fluktuation von Kommune zu Kommune angeht, reden wir von Einzelfällen. Sowohl in die eine als auch in die andere Richtung. Wir werben jedenfalls nicht aktiv ab.

Wie könnten und wo müssten Entscheidungsprozesse in Tönisvorst beschleunigt werden?

Goßen: Es gibt für mich einen klaren Punkt: Dass wir uns als Tönisvorster Rat nach der Wahl zusammensetzen und -finden müssen, um insbesondere über unsere Ausschuss-Strukturen nachzudenken. Meine persönliche Meinung dazu ist: Wir haben zu viele Ausschüsse, zu viel Doppelzuständigkeiten. Wir müssen zu einem System kommen, in dem das, was drauf steht, auch drin ist. Nehmen wir den BEVU: Bauen, Energie, Umwelt und Verkehr. Das Bauen bezieht sich dort nur auf den Tiefbau. Und dann fängt das bei einer Kinderspielplatzmaßnahme schon an. Da ist auch der Jugend- und Sozialausschuss zuständig. Ich bin für eine Bündelung. Sie täte gut. Das müssen aber alle neu gebildeten Fraktionen diskutieren. An vielen Stellen könnte man dadurch an Effizienz gewinnen. Und ich werfe mal die Frage ein, ob viele kleine Details, wie beispielsweise einzelne Halteverbotsregelungen, immer in die Zuständigkeit eines Ausschusses hineingehören oder ob das nicht letzlich auch bei der Verwaltung liegen könnte, um dem Ausschuss den Freiraum zu geben, sich mit den strategischen Fragen zu beschäftigen. Aber das sind historisch gewachsene Strukturen, die hier auf den Prüfstand müssen.

Das Uralt-Thema Verwaltungsneubau hängt weiter in der Schwebe. Der Standort ist noch nicht klar. Wie geht es weiter? Bleiben Sie bei Ihrem Favoriten Wilhelmplatz?

Goßen: Ich habe den Wilhelmplatz ja genannt und stehe weiter dazu, im Zentrum eines Ortsteils zu bauen. Wenn es gelingt, ein solches Gebäude in einer solchen Lage zu positionieren, hat das den positiven Nebeneffekt, dass viele Menschen in der Innenstadt arbeiten. Eine sehr gute Nahverkehrsanbindung entscheidet auch über die Frage, ob Mitarbeiter gerne zur Arbeit pendeln. Der Standort muss in jedem Fall zentral sein. Ich habe am Ende in dem Gremium Stadtrat – im Moment sind es 39 – eine Stimme. Ich bin guten Mutes, dass wir zu einer Entscheidung kommen. Zum Vorster Rathaus wird es einen transparenten Wettbewerb geben. Der CDU-Antrag ist letzte Woche einvernehmlich im Ausschuss Wirtschaftsförderung, Stadtmarketing, Gebäudemanagement und Liegenschaften beschlossen worden, jenseits von Wahlkampfgetöse, und das ist gut so.

Die Corona-Pandemie beschert der Stadtkasse erhebliche Ausfälle. Sie rechneten schon einmal mit Kämmerin Waßen ein Steuerminus zwischen 2,66 Millionen und 4,31 Millionen Euro vor. Wie ist der aktuelle Stand? Und was bedeutet das dicke Minus für die Stadt?

Goßen: Gewerbesteuer ist wichtig. Da muss man nicht diskutieren. Da sehen wir prognostizierte Einbußen. 2020 und 2021 werden sie größtenteils vom Land kompensiert. Was mir noch größere Sorgen macht, ist tastächlich der Anteil an der Einkommenssteuer. Die Wirtschaftsleistung in Deutschland ist um mindestens sechs Prozent eingebrochen. Wir werden erleben, dass weniger erwirtschaftet worden und weniger an Steueraufkommen da ist. Das wird uns die nächsten Jahre treffen. Im Moment haben wir noch die Blase. Alle warten, was passiert, wenn im Oktober die Insolvenzregelungen auslaufen. Ich habe die große Befürchtung, dass gegen Ende des Jahres die große
Insolvenzwelle durchschwappt. Dass sie dann trifft. Es wird unvermeidbar sein. Das haben wir in der Finanzkrise 2009 gelernt. Die Einbrüche aus der Einkommenssteuer werden uns in Tönisvorst mit einem Jahr Verzögerung erwischen, weil die Zuweisung dann nach unten geht.

Die Einnahmensituation verbessern, das können Kommunen mit einem Mehr an Gewerbesteuer. Das Areal Real/Höhenhöfe könnte Ansiedlungen von Technologieunternehmen, Großhändlern und großen Handwerksunternehmen aufnehmen? Welche Aussichten gibt es dort?

Goßen: Die Firma Samco Autotechnik, die sich dort angesiedelt hat, wird deutlich expandieren, trotz Corona. Wir haben uns, was das Gebiet angeht, das Thema Wasserschutz angeschaut. Die Wasserschutzverordnung, die uns in der Ansiedlung von Unternehmen behindert, würde nur dann fallen, wenn wir die Wasserförderung aufgeben würden. Aber wir haben uns am Ende dazu entscheiden, das nicht zu tun. Wir haben von Hydrologen klar erklärt bekommen, dass das Risiko, dass Grundwassserstände in weiten Teilen des Stadtgebietes so stark steigen könnten, dass die Leute nasse Keller bekommen, nicht beherrschbar ist. Insoweit muss man weiter auf das Thema setzen, dass man dort Unternehmen findet, die nicht Wasserschutz-relevant sind. Schön wäre es, wir hätten da mehr Freiheiten, aber in der Bewertung des Risikos ist das nun so.

Was passiert mit Real?

Goßen: Nach dem was wir wissen, ist dieser Real-Markt einer der umsatzstärksten. Ich sehe keinerlei Signal, dass er in Gefahr ist. Ich gehe nicht davon aus, dass der Real-Markt von den aktuellen Maßnahmen betroffen ist.

Themenwechsel. Der Lehrer Andreas Kaiser wirbt öffentlich dafür, Ihren Herausforderer Uwe Leuchtenberg zu wählen. Herr Kaiser ist Leiter der Rupert-Neudeck-Gesamtschule. Sie arbeiten viel zusammen. Was haben Sie gedacht, als Sie das Unterstützer-Video sahen?

Goßen: Ich selber bin ja nicht Teil dieser sozialen Medien. Übrigens eine ganz bewusste Entscheidung. Einen eigenen, persönlichen, privaten Facebook- oder Twitter-Account habe ich nicht. Ich halte an dieser Entscheidung, die ich schon 2014 getroffen habe, bewusst fest. lch kenne aber das Video. Herr Kaiser ist da als Privatperson aufgetreten. Hat bewusst nicht den Bezug zur Schule hergestellt. Ich bin in der Tat gelassen. Auch wenn Leute an einer anderen Stelle das Kreuzchen machen, kann ich gut mit ihnen reden. Und das ist bei Herrn Kaiser auch der Fall.

Den Rechtsanspruch auf eine Betreuung von Kindern in der Offenen Ganztagsschule nennen Sie eine große Herausforderung. Wird Tönisvorst das stemmen?

Goßen: Den Rechtsanspruch werden wir stemmen. Punkt. Völlig klar. Das kann ich guten Gewissens als Anspruch formulieren. In keiner Kommune im Umkreis ist der Betreuungsschlüssel besser als in Tönisvorst.

Der Werbering St. Tönis und der Ausfall des Adventszaubers waren ein Krisenthema. Wie sehen Sie „St. Tönis erleben“ und „Vorst aktiv“ nun aufgestellt?

Goßen: Das ist eine klasse Zusammenarbeit, die allen Beteiligten und mir viel Spaß macht, sowohl auf städtischer Seite als auch in den Werbegemeinschaften. Das ist im Nachgang zu dem Thema keine Selbstverständlichkeit. Es hat so sollen sein. Wir sind Mitglied bei „St. Tönis erleben“ und wir werden es aktuell auf Wunsch von „Vorst aktiv“ auch dort.

Die Feuerwehrführung sorgte auch für Schlagzeilen. Ist die Situation nun an der Spitze und in den Mannschaften befriedet?

Goßen: Ich bin nach wie vor im Gespräch. Die Rückkopplung, die ich bekomme, ist richtig gut. Die Betonung liegt auf „richtig gut“. Das ist ein Neuanfang. Und der trägt so, wie wir uns das alle gewünscht haben.

Die Windräder in Vorst werden gerade errichtet. Ein Thema, das Ihnen viel Kritik in Vorst und in der Politik eingebracht hat. Können Sie dem Bürger Ihre Position als Bürgermeister zwischen Einverständniserklärung und Klageweg überhaupt vermitteln?

Goßen: Ich werde häufig angesprochen. Wenn man sich Zeit nimmt, darüber zu diskutieren, wird es an vielen Stellen nachvollzogen und verstanden. Das ist eine hochkomplexe Materie. Es bestand für die Politik kein Spielraum, das Einverständnis zu versagen, ohne dass es am Ende vom Kreis ersetzt würde. Klar ist: Wir wollten politisch diese Vorrangfläche für Windkraft in Vorst nicht – einstimmig. Sie wurde gegen uns im Regionalplan ausgewiesen. Man hätte zu diesen Zeitpunkt nochmal deutlich machen müssen, dass die Politik damit daran gebunden war, diese Vorrangfläche letztlich auch im Flächennutzungsplan auszuweisen. Das haben wir aber nicht getan, weil das nicht unserer inhaltlichen Position entsprach. Aber es bestand selber kein planerischer Entscheidungsspielraum mehr. Der Flächennutzungsplan muss immer dem Regionalplan entsprechen. Letzterer setzt sich immer wieder durch und eine Verhinderungsplanung hat das Verwaltungsgericht für unwirksam erklärt.

Vier Bürgermeister-Kandidaten treten in Tönisvorst an. Wer ist ihr stärkster Konkurrent? Wen sehen Sie in der Stichwahl?

Goßen: An Uwe Leuchtenberg habe ich mich als Mitbewerber gewöhnt. Spaß beiseite: Wir alle warten die Entscheidung der Wählerinnen und Wähler ab, die haben das Wort.

Was tun Sie, wenn der Bürger mehrheitlich anders entscheidet? Gibt es einen Plan B für Ihre Zukunft?

Goßen: Einen Plan B habe ich nicht gefasst. Ich habe ein realistisches und entspanntes Verhältnis zu der Aufgabe, die mir für weitere fünf Jahre übertragen würde. Wir werden sehen, was passiert. Es gibt immer mehrere Wege im Leben.

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