Kammerspiel im Corneliusforum Tönisvorst Kammerspiel „Heilig Abend“ lässt viele Fragen offen

St. Tönis. · Das Stück von Daniel Kehlmann thematisierte das Dilemma zwischen Freiheit und Sicherheit.

 Die Schauspieler Wanja Mues (r.) und Jacqueline Macauly in einer Verhörsituation.

Die Schauspieler Wanja Mues (r.) und Jacqueline Macauly in einer Verhörsituation.

Foto: Joachim Hiltmann

Es geht um Systemkritik durch Terrorismus, um persönliche Daten und den Umgang damit, um Freiheit und Sicherheit, um Gerechtigkeit in der Welt und ein bisschen auch um Verhörmethoden bis zur Androhung von Folter, kurzum: Es geht um ziemlich viele, ziemlich große gesellschaftliche Themen, vielleicht zu viele für ein 90-minütiges Theaterstück.

„Heilig Abend“ heißt das Kammerspiel, mit dem die Konzertdirektion Landgraf derzeit tourt und das am Freitag auf Einladung des Stadtkulturbunds Tönisvorst im Corneliusforum St. Tönis gezeigt wurde. Etwa 500 Zuschauer kamen, und wie sich an den Reaktionen und Kommentaren zeigte, erschloss sich nicht jedem Besucher der Sinn der Handlung. Vielen war die Figur des undurchschaubaren und unberechenbaren Verhörspezialisten Thomas wohl auch zu anstrengend.

Schauspieler Wanja Mues spielt diese Figur großartig. Der 46-Jährige springt zwischen einem scheinbar freundlichen Polizisten, einem gehetzten Ermittler und einem Mann, dem man jede Grausamkeit zutraut, hin und her. Mal wirkt er zugänglich, mal einschüchternd, mal als stünde er am Rand des Wahnsinns. Die Philosophie-Professorin Judith lässt sich davon allerdings nicht beeindrucken. Jacqueline Macaulay gibt der Figur Souveränität und ein Selbstbewusstsein, das an Arroganz grenzt. Deutlich ist ihr die Verachtung anzumerken, die sie dem Ermittler, der für das System steht, das sie kritisiert, entgegenbringt. Aus diesen Positionen heraus entwickelt sich ein verbaler Schlagabtausch, der, wenn man sich als Zuschauer darauf einlässt, Tiefe hat.

„Ich kenne kein besseres System“, sagt Thomas etwa in einer Szene. „Was wenn es nicht das beste System ist?“, fragt Judith. „Was, wenn es eigentlich ein grausames System ist, das die Menschen ausbeutet und sie in Angst und Unwissenheit hält und sich im Augenblick sogar vom Anschein der Demokratie verabschiedet, was dann?“

Ein Schlagabtausch zwischen
System und Systemkritik

Das Bühnenbild, in dem sich das Szenario abspielt, ist in grauem Waschbeton gehalten. Nichts lenkt ab von dem Polizisten, der Terrorverdächtige und der digitalen Zeitanzeige, die an eine tickende Bombe erinnert. Eben diese Bombe soll die Philosophie-Professorin Judith irgendwo deponiert haben. An Heiligabend um Mitternacht soll sie hoch gehen. Dem Polizisten bleiben 90 Minuten, um herauszufinden, wo die Bombe ist – falls es sie gibt – und sie zu entschärfen. In eben diesen 90 Minuten spielt das Stück, das ohne Pause gezeigt wird und ein Schlagabtausch zwischen System und Systemkritik ist.

Für den Polizisten Thomas ist Systemkritik etwas aus den 1970ern, Fragen von vorgestern. Judith hält dagegen: „Weil man das gelöst hat? Sind das Fragen von vorgestern, weil das Problem der Armut beseitigt ist?“ Wer von beiden auf der richtigen Seite steht, bleibt offen. Judith weiß, dass es falsch ist, eine Bombe zu zünden, aber: „Vielleicht ist es manchmal besser, das Falsche zu tun, als nichts.“ Und so, das sagt der Autor Daniel Kehlmann selbst zu seinem Stück, stecke letztlich hinter all den Fragen, die „Heilig Abend“ aufwirft, die profundere Frage der Verteilungsgerechtigkeit.

„Wieso sind die Güter der Welt so ungerecht verteilt? Wieso sind so wenige so reich und so viele so arm, und was kann man tun, um die Güter besser zu verteilen? Diese Frage ist immer noch die Frage, die unterhalb all dieser Fragen liegt, die wir als viel aktueller empfinden, und sie ist immer noch die wichtigere“, sagt Daniel Kehlmann. Eine Antwort gibt er nicht, aber er regt mit seinem Theaterstück „Heilig Abend“ zum Nachdenken an, und auch das ist eine Aufgabe, die Theater und Literatur haben.

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