St. Tönis: Kampf gegen das Vergessen

Dutzende Schüler von Gymnasium, Real- und Hauptschule Kirchenfeld beteiligten sich in St. Tönis an dem Lichterzug zum Gedenken an die Opfer in der Pogromnacht.

St. Tönis. Gut beschirmt stehen Heidrun Niedert und fünf Jugendliche vor dem Kirchenportal von St. Cornelius. Sie sind nah zusammengerückt und zünden sich gegenseitig ihre Kerzen an.

Die Deutsch- und Sportlehrerin und ihre Schüler aus der 10a der Leonardo-da-Vinci-Realschule haben sich wie viele Dutzende andere an diesem Abend des 9. November mitten in St. Tönis versammelt, um der Opfer der Pogromnacht von 1938 zu gedenken.

Für Tim, 17, und seine Klassenkameraden ist das keine Pflichtveranstaltung. "Ich bin bei solchen Sachen immer dabei."

Viele junge Leute der weiterführenden Schulen, von der Hauptschule Kirchenfeld, von Realschule und Michael-Ende-Gymnasium, gehen mit, als der Lichterzug sich in Bewegung setzt, um die Kirche herum, über die Hochstraße. Die Gassen sind verwaist, die Geschäfte geschlossen.

Wolfgang Dannecker schirmt seine Flamme mit der Hand vor Wind und Regen ab. Als Personalrats-Chef repräsentiert er die Beschäftigten der Stadtverwaltung. Ob er auch als Privatmann mitgezogen wäre, wisse er nicht, gibt der Vielbeschäftigte ehrlich zu. Beim Anblick der vielen Schüler aber freut er sich, dass "dies offenbar keine Veranstaltung musealen Charakters" ist.

Bürgermeister Thomas Goßen, sein Vorgänger Albert Schwarz, etliche Ratsherren, Bürger, Pfarrer Renz Schaeffer (evangelische Kirchengemeinde St. Tönis) und Gemeindereferent Thomas Güntermann von St. Cornelius erreichen das Mahnmal an der Hospitalstraße. Die Menschen stellen ihre brennenden Kerzen auf das kleine Mäuerchen vor der Gedenktafel. Die Gespräche ebben ab. Flüstern geht in andächtige Stille über, als Goßen betont: "Wir dürfen Erinnerung nicht als Ritual leben."

Danach haben Isabel Steinke und Raphaela Weinhold, die beiden Schülersprecherinnen des Michael-Ende, das Wort. Als sie ein Schreiben von SS-Gruppenführer Reinhold Heydrich vom 9. November 1938 an alle Staatspolizeistellen zitieren, in dem er Aktionen gegen Juden, insbesondere gegen deren Synagogen ankündigt, ist ihnen die Aufmerksamkeit aller sicher.

1300 Tote forderten die Ausschreitungen dieser Novembernacht, 7500 verwüstete Geschäfte, 1400 zerstörte Gemeindehäuser und Synagogen, darunter auch die, die in St. Tönis stand, "hier an dieser Stelle, an der wir uns jetzt gerade befinden", sagt Isabel. Und fügt nach einer kurzen Atempause hinzu: "Noch heute haben wir keine jüdische Gemeinde."

Den Blick zurück verknüpfen die Mädchen mit Gegenwart und Zukunft. Es imponiert allen, als die Schülerinnen selbstbewusst sagen: "Wir stehen hier, weil wir Folgendes wollen: Kämpfen gegen Vorurteile, Wachhalten der Erinnerung, Toleranz gegenüber Andersgläubigen, auch dann, wenn sie ihren Glauben sichtbar leben."

Anschließend legen Isabel und Raphaela gemeinsam mit den Schülersprechern Timo Schönen (Hauptschule Kirchenfeld) und Magdalena Raufmann (Leonardo-da-Vinci-Realschule) einen Kranz nieder - im Namen der Schulen, der Kirchengemeinden und der Stadt Tönisvorst. Als das grelle Licht des aufgestellten Scheinwerfers ausgeht, leuchten die Flämmchen der vielen Kerzen weiter. In ein besseres Licht hätte man den Nachklang dieser Gedenkveranstaltung nicht stellen können.

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