Seelsorger mit Gesprächszeit

Thomas Guntermann sucht als Gemeindereferent regelmäßig alte und kranke Menschen auf.

Tönisvorst. Josefa Küsters empfängt den „Berufskollegen“ mit großer Herzlichkeit. Die 91-Jährige und der junge Mann von Jahrgang 1963 bewegen sich auf einer Wellenlänge. Die Zeit, die die ehemalige Gemeindereferentin und der Seelsorger der Gemeinde St. Cornelius, Thomas Guntermann, im Seniorenhaus miteinander verbringen, durchzieht ungezwungene Heiterkeit. „Ich schätze ihn sehr“, sagt Bewohnerin Josefa Küsters, „seinen Einsatz, seine Aufrichtigkeit und seine Ruhe.“

Thomas Guntermann freut sich sichtlich über das Lob der vitalen Dame, die erstaunlich schlagfertig ist. „Unser Humor ist auf einer Ebene,“ sagt er. „Wir reden auch über Probleme hier und da“, hakt Josefa Küsters ein, „aber dazwischen ist immer ein Witzchen.“

Zu den Messen, freitags in der Kapelle des Antoniuszentrums, sehen sich beide jede Woche, zum Gespräch unter vier Augen „realistisch betrachtet alle zwei Monate“, sagt Guntermann. Der Bistumsangestellte ist seit Februar 2010 in St. Tönis, kümmert sich als Seelsorger um die individuelle Betreuung von alten, kranken und behinderten Menschen. Die drei Häuser des Antoniuszentrums in St. Tönis und Vorst sind seine Adressen.

„Wenn man sich wohlfühlt, dann verfliegt die Zeit,“ sagt er. Überziehen darf er kaum, denn auf dem Plan, den er bei sich trägt, sind mehrere Namen markiert. Es wartet schon der Nächste. Ihn nicht warten zu lassen, ist Thomas Guntermann ein Anliegen. Er ist dafür verantwortlich, wer wie viele Minuten bekommt. „Am liebsten würde man sich für jeden eine Stunde Zeit nehmen.“ Doch das sei nicht machbar.

Aber Gerechtigkeit ist auch ein Zeitmaß in dem großen Seniorenheim, in der großen Pfarrgemeinde St. Cornelius. Guntermann: „Ich gehe zu jedem, der das wünscht.“ Guntermann versucht im Plausch offen zu bleiben für das, was in dem Gespräch noch kommen kann. „Wenn die Leute wollen, können wir über alles reden.“ Für die einen hat er Gebetsbücher dabei, mit anderen betet er das Vaterunser. Er macht die Krankensegnung, singt Lieder oder führt Gespräche, auch ohne Gott und Jesus zu erwähnen.

Thomas Guntermann, Gemeindereferent der Pfarrer St. Cornelius

Nicht jeder Bewohner, den Guntermann aufsucht, ist so vital wie Josefa Küsters. Die Zahl der Demenz-Kranken nimmt zu. Für die Gespräche mit diesen Bewohnern muss Guntermann seine ganze Aufmerksamkeit bündeln.

„Die Menschen, die ich besuche, haben ein anderes Zeitempfinden als ich. Das ist immer ein Spannungsbogen“, sagt der Seelsorger. Wenn er ein Zimmer verlässt, kann es also passieren, dass er auch Enttäuschung zurücklässt.

Im nächsten Stockwerk erwartet Josefine Pliesters den Gemeindereferenten. „Wir haben uns gleich verstanden“, sagt die ernsthafte, sehr nachdenkliche Frau. Mit ihr haben sich schon viele tiefgründige Gespräche ergeben. Auch in den Messen ist Josefine Pliesters aufmerksam: „Ich gebe ihm Rückmeldung. Seine Predigten sind manchmal zu kompliziert und zu lang.“ Guntermann nickt: „Ich habe Ihren Hinweis ernst genommen, habe gekürzt und vereinfacht und mich von Ihnen ermutigen lassen, mehr eigene Predigttexte zu schreiben.“

Josefine Pliesters scheint noch mehr sagen zu wollen, hat sich viele Gedanken zur Zeit gemacht, doch Guntermann muss sich verabschieden. Vor dem Mittagessen will er noch bei Rolf Segel vorbeisehen, bei dem munteren, viel gereisten Senior, der sich im Seniorenheim der Malerei widmet. „Hobbys tun so gut“, sagt Guntermann, „vor allem den Männern. Die kapseln sich eher ab.“

Seit zwei Jahren weiß Guntermann selbst Zeit für Hobbys zu schätzen. Nach einem Burn out hatte er Körper und Seele 2008 in Norwegen beim Angeln Erholung verordnet. „Ich weiß nun: Ich brauche diese Stille und die Natur um mich.“ Selbstfürsorge nennt er das. Für sich, seine Familie, seine berufliche Zukunft. Der Wechsel nach St. Tönis, die seelsorgerische Arbeit dort, hat damit zu tun.

Gedanken macht sich Guntermann um die Zukunft seiner Kirche. „Ich bin gespannt, ob wir es in Deutschland schaffen, eine neue Kirche zu werden, viel Personen-bezogener, mit Angeboten für sehr viel mehr verschiedene Menschen.“ Kirche müsse auch Zeitkonzepte entwickeln, „weniger Zeit für Schreibtischarbeit, mehr für die Seelsorge.“ Das sind seine Gedankenspiele für die Zeit in 40 Jahren. In 40 Minuten ist Guntermann schon wieder im Kandergarten in Vorst. Er wird erwartet — zu Gesprächen, von denen er vorher nicht weiß, welchen Verlauf sie nehmen werden.

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