Anrath Die grausame Vergangenheit von Haus Broich

Der heute 75-jährige Klaus Fädrich berichtet von seinen Erinnerungen an das Anrather Kinderheim. Sie sind von Gewalt und Angst geprägt.

Anrath: Die grausame Vergangenheit von Haus Broich
Foto: wic

Anrath. Klaus Fädrichs Kindheit war bestimmt von ständiger Angst — Angst vor Schlägen, Angst vor Hänseleien, Angst vor dem Eingesperrtsein. Zehn Jahre hat der heute 75-Jährige im damaligen Kinderheim im Haus Broich in Anrath verbracht. „Das war die Hölle, man hat mir meine Kindheit gestohlen“, sagt er am Telefon. Er habe ernsthaft überlegt, noch einmal herzukommen, um seine Geschichte zu erzählen, doch seit mehr als 50 Jahren war Klaus Fädrich nicht mehr im Rheinland — zu tief sind die Wunden. „Das hätte ich nicht geschafft.“ Seit 50 Jahren lebt er mit seiner Familie in Leer in Ostfriesland — und hat sich erst jetzt entschlossen, von seinen Qualen im von Nonnen geführten Kinderheim zu berichten. „Ich möchte, dass so etwas nicht mehr passieren kann.“ Berichte wie die über die Misshandlungen von Kindern bei den Regensburger Domspatzen machen ihn wütend.

Anrath: Die grausame Vergangenheit von Haus Broich
Foto: Stadtarchiv Willich

Wie schlimm seine Kindheit gewesen sein muss, lässt sich vielleicht am besten daran erkennen, dass ihm erst die Tränen kommen, als er von den schönen Momenten erzählt: „Einmal im Jahr durften wir Waisenkinder für sechs Wochen am Zeltlager in der Eifel teilnehmen. Das war für mich der Himmel auf Erden.“ Doch je näher das Ferienende rückte, umso mehr rückte die Angst wieder in den Vordergrund — Angst vor Schwester Alba.

Schon als kleiner Junge hatte Klaus Fädrich zahlreiche Operationen wegen einer kriegsbedingten Verletzung im Gesicht hinter sich. Entsprechend schlecht war seine körperliche Verfassung. „Einmal wurde ich vom Lehrer nach Hause geschickt, weil es mir nicht gut ging. Als ich im Haus Broich ankam, wurde ich im Speisesaal schon von Schwester Alba und Schwester Regina empfangen“, erinnert sich Fädrich. „Schwester Regina blieb in der Tür stehen, sodass ich nicht weglaufen konnte. Schwester Alba rannte mit einem Handfeger hinter mir her und schlug damit wahllos auf meinen Kopf ein. Ich versuchte wegzulaufen, schrie ,aufhören’ — aber Schwester Alba war schneller.“ Wie lange die Jagd durch den Speisesaal dauerte, weiß Fädrich nicht mehr, irgendwann wurde er ohnmächtig.

„Nach ein paar Tagen fand ich mich im Krankenhaus in Dülken wieder — auf der Isolierstation, damit niemand mitbekam, was mir widerfahren war. Gesagt wurde mir, ich hätte Typhus. Die Erinnerung an die Schläge kam erst ein paar Tage später. Es ist auch heute, nach über 60 Jahren, noch ein Albtraum, wenn ich daran denke, wie ich durch den Saal gejagt wurde“, sagt Fädrich und erinnert sich noch gut an seine Ankunft im Kinderheim, als er endlich aus dem Krankenhaus entlassen wurde: „Als ich die große Treppe hinaufging, kam mir Schwester Alba entgegen — da kam natürlich alles wieder hoch.“

Dieses Erlebnis war das schlimmste während seiner rund zehnjährigen Zeit im Haus Broich. 1942 war er in Breslau geboren und als Findelkind in einem Kloster abgegeben worden. Mit den Nonnen flohen die Kinder nach einem Bombenangriff und landeten 1945 im Haus Broich. „Da fing das bewusste Leiden an“, sagt Fädrich und erinnert sich an die schlimme Zeit. Immer wieder wurden die Kinder, wenn sie etwas angestellt hatten, auf dem dunklen Dachboden eingesperrt. „Ich habe geweint, bis ich nicht mehr weinen konnte“, sagt Klaus Fädrich. „Am schlimmsten war der Teufel, der dort oben angeblich wohnte.“ Den Teufel kannten die Heimkinder — denn er begleitete neben Knecht Ruprecht Jahr für Jahr den Nikolaus und machte den Kindern mit seiner Kette furchtbare Angst. Und dann war da noch der wöchentliche Badetag: „Ich musste mich in der Badewanne hinknien oder stehend meine Haare und meinen Oberkörper selbst waschen — untenrum machte es Schwester Alba. Ich schämte mich dabei sehr“, sagt Fädrich.

Die Angst war der ständige Begleiter des kleinen Klaus, die Schulnoten waren entsprechend schlecht. „Ich war wie von Sinnen, konnte mich nicht konzentrieren.“ Mit 14 Jahren hatte er Glück und bekam eine Lehrstelle in einer Gärtnerei. „Mit 21 Jahren habe ich mein Leben dann richtig in den Griff bekommen. Ich wollte allen zeigen, dass ich doch etwas kann“, sagt Fädrich. Er nahm sich eine Wohnung und arbeitete eine Zeit lang bei Bayer in Uerdingen, bald darauf ging er zur Bundeswehr und lernte während eines Lehrgangs in Leer seine spätere Frau kennen und fand in Ostfriesland Arbeit. Seitdem war Fädrich nicht mehr im Rheinland — „ich war froh, dass ich weit weg war.“ Das Ehepaar bekam drei Kinder, inzwischen bereichern vier Enkel die Familie. „Meine Familie ist meine Therapie“, sagt der Rentner, der seine Lieben mit seiner furchtbaren Vergangenheit aber lieber nicht zu sehr belasten möchte. Daher schwieg er jahrzehntelang und fasste erst vor wenigen Monaten den Entschluss, sich seiner Vergangenheit zu stellen.

So schilderte er seine Erlebnisse dem Landesjugendamt, das beim Landschaftsverband Rheinland angesiedelt ist. Dort bestätigte man ihm, dass es bereits mehrere Schilderungen über ähnliche Vorfälle im Haus Broich gegeben habe. Auch an die Kongregation der Schwestern von der Heiligen Elisabeth, die das Heim seinerzeit betrieben hatte, wandte sich Fädrich — und erhielt einen langen, sehr persönlich geschrieben Brief von der Provinzoberin, in dem sie die Taten ihrer Glaubensschwestern scharf verurteilt. msc

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