Das gruseligste Zimmer an Silvester

Um den ehemaligen Adelssitz Neersdonk spinnen sich viele Geschichten und Gerüchte.

Das gruseligste Zimmer an Silvester
Foto: Prümen

Vorst. Christian Recken kennt sie alle, die Geschichten von Haus Neersdonk. Der 36-Jährige ist in dem 350 Jahre alten ehemaligen Rittersitz, der seinem Vater Hermann-Josef Recken gehört, aufgewachsen. Auch die Geschichte der beiden weiß gekleideten Edelfrauen, die an Silvester vor dem Kamin im ehemaligen Ritterzimmer sitzen und Wolle aufrollen, hat er schon gehört. „Weil wir an Silvester um Mitternacht aber immer vor dem Haus stehen und das Feuerwerk anschauen, haben wir die Damen noch nie gesehen“, sagt Recken fast entschuldigend.

Beim Glockenschlag um Mitternacht, so erzählen sich die Vorster, soll ein Rauschen von seidenen Kleidern zu hören sein, bevor die beiden weiß gewandeten Frauen bei offenem Feuer am Kamin Platz nehmen und am Spinnrad drehen. Während die Ältere ein Wollknäuel abwickelt, spult die Jüngere es wieder auf, wobei sie ein für Sterbliche unverständliches, schauriges Lied singen, bevor sie nach kurzer Zeit wieder im Nichts verschwinden.

Ob es in dem alten Gemäuer wirklich spukt, weiß Christian Recken, der die schlossartige Anlage mit seiner Familie und der seines Bruders bewohnt, nicht. Seltsame Geräusche aber vernimmt er mitunter schon. „Also, wenn der Wind ums Haus pfeift, dann klingt das tatsächlich manchmal wie ein Wehklagen“, sagt der 36-Jährige, der sich noch gut daran erinnern kann, dass er sich als Kind in der Nacht, wenn der Wind pfiff und die Treppe knarzte, manches Mal gefragt hat, ob es nicht doch unheimliche Mächte im Haus gibt.

Und die Geschichte um die beiden weißen Frauen ist nicht das einzige Gerücht, das sich hartnäckig hält. „Im Keller zum Beispiel gibt es zwei Räume, die nicht zugänglich sind“, erzählt Recken. Bei dem einen, dessen Türe zugemauert ist, werde spekuliert, dass von ihm ein unterirdischer Geheimgang zum Haus Raedt, einem der anderen Vorster Adelssitze, führt. Der andere nicht zugängliche Kellerraum ist unter einem der Türme, deren barocke Hauben das schon von Weitem gut sichtbare Merkmal des Hauses sind. Der Raum diente in grauer Vorzeit als Kerker. Eine Luke, durch die Menschen in das Verlies geworfen wurden, war die einzige Öffnung.

„Dort“, so weiß der Hausbewohner, „sollen die Gebeine des Gutsherrn von Aschenbroich liegen, der offiziell einen Jagdunfall hatte. Inoffiziell ist er aber wohl von seinem Bruder erwürgt worden, der die Leiche dann im Kerker verschwinden ließ.“ 1763 soll das gewesen sein. Bis heute, so die Legende, spuke der Geist des Gutsherrn durch das Haus. Glück hat dem Bruder das Ableben des Familienerben übrigens nicht gebracht. Nachdem drei Generationen des Adelsgeschlechts Haus Neersdonk bewohnt und die Ländereien bewirtschaftet hatten, verfiel das zweigeschossige Backsteingebäude nach dem Tod des Bruders, wurde versteigert und wechselte den Besitzer.

Eine der nachfolgenden Besitzerinnen war die Gräfin Maria Anna von Efferen. Auch aus dieser Zeit ist eine Geschichte überliefert, die allerdings auf Tatsachen beruht. Wie Heimatforscher Franz Dohr in seinem Buch über Vorst berichtet, nahm die Gräfin ein Waisenkind auf. Mathias Weber hieß der Junge, der später als „Fetzer“ bekannt wurde. Mit einer Räuberbande überfiel er in der Nacht zum 3. Mai 1797 Haus Neersdonk. Schon am Tag trafen sich Mathias und seine Kumpanen im nahen Wald, der bis heute die Bezeichnung „Räuberhöhle“ trägt. „Hier unterrichtete er seine Freunde über die Örtlichkeiten, die er aus seiner Zeit auf Haus Neersdonk genauestens kannte“, schreibt Dohr.

In der Nacht schlichen sich die Räuber auf den Schlosshof. Auf ihren Schultern trugen sie einen Baumstamm, der als Türöffner diente. Während die Räuber dabei waren, alle Hausbewohner zu fesseln und die Wertgegenstände an sich zu nehmen, kam der Gärtnerlehrling Johann Baptist Schmitz, der auf dem Schloss arbeitete, von einem spätabendlichen Ausflug aus dem Dorf zurück. Er erkannte die Lage, alarmierte die Nachbarn, lief ins Dorf zurück und ließ die Kirchglocken von St. Godehard läuten, wie es zu jener Zeit üblich war, wenn Gefahr drohte.

Eine Schar von Helfern eilte zum Schloss und schlug die Räuber in die Flucht. Einige konnten festgenommen werden, andere entkamen. Unter ihnen auch der Fetzer, der als Räuberhauptmann in Krefeld noch eine kurze Karriere hinlegte, bevor er 1803 in Köln auf dem Schafott endete. Die Gräfin von Efferen aber zeigte sich ihren Rettern gegenüber großzügig. Sie schenke jedem Nachbarn einen halben Morgen Wald. „Bis heute sind einige Vorster Familien noch im Besitz dieser Parzelle“, weiß Christian Recken.

Familie Recken lebt heute bereits in fünfter Generation im Haus Neersdonk. Während die Ländereien zum größten Teil als Ackerfläche verpachtet sind, betreibt Herman-Josef Recken eine Rinderzucht. Zudem finden seit gut einem Jahr auch wieder standesamtliche Trauungen statt. Genau in dem Raum, in dem die weiß gekleideten Frauen an Silvester ihr Leid klagen.

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