Willich 272 Seiten gegen das Vergessen

Bernd-Dieter Röhrscheid und Udo Holzenthal haben „Die Geschichte der Juden in Willich“ geschrieben.

Willich: 272 Seiten gegen das Vergessen
Foto: Friedhelm Reimann

Willich. Siegmund „Sally“ Kaufmann war ein angesehener Mann. Als Frontkämpfer hatte der 1878 geborene Schiefbahner im Ersten Weltkrieg für sein Vaterland gekämpft und diverse Auszeichnungen erhalten. In seinem Heimatort baute er für sich und seine Familie (Ehefrau Josefina und fünf Kinder) eine Existenz als Vieh-, Manufaktur- und Wollwaren-Händler auf. Offenbar sehr erfolgreich, denn Anfang der 30er Jahre ließ er an der Schulstraße 2 ein neues, aufwendiges Haus errichten.

Kaufmann inserierte in der Festschrift des MGV Cäcilia, sein jüngster Sohn Fritz war in der Turnriege des TV Schiefbahn aktiv, die Kinder Ernst, Thekla und Else spielten Handball in Mönchengladbach. Alte Fotos vermitteln das Bild einer unbeschwerten Kindheit.

Freundschaftlich verbunden war man mit der Familie von Landwirt Johann Schmitz im Büttgerwald. An diese schrieben Sally Kaufmann und Sohn Fritz am 4. Dezember 1941 eine Postkarte: „Uns geht es allen ganz gut. Schreibt bald und denket unser.“

Abgeschickt wurde die Karte im Ghetto Litzmannstadt. Dorthin war die jüdische Familie im Oktober 1941 deportiert worden. 100 Reichmark pro Person musste Sally Kaufmann für diese „Evakuierung“ zahlen. Es wurde eine Reise in den Tod: Nur Fritz Kaufmann überlebte die Vernichtungslager der Nazis — Vater Siegmund starb schon ein halbes Jahr nachdem er die Postkarte geschrieben hatte an Entkräftung. Seine Frau und die Kinder Ernst und Else wurden wenige Wochen später im KZ Kulmhof ermordet.

Es sind Geschichten wie diese, die den Leser von „Die Geschichte der Juden in Willich“ nicht mehr loslassen — auch wenn er das neu erschienene Buch längst aus der Hand gelegt hat. Dessen Autoren Bernd-Dieter Röhrscheid und Udo Holzenthal haben in fünfjähriger, akribischer Kleinarbeit die Lebenswege der jüdischen Familien in Schiefbahn, Anrath, Neersen und Alt-Willich von 1700 bis heute nachgezeichnet. Ergebnis ist ein Buch, das von seinem Ende her geschrieben wurde. Denn ohne dieses schreckliche Ende ist die Geschichte der Juden in Willich nicht erzählbar.

Das 272 Seiten starke, aufwendig gestaltete Werk, das die Heimat- und Geschichtsfreunde herausgegeben haben, stellt die Biografien und Stammbäume von 27 Familien vor. Nur wenige ihrer Mitglieder überlebten den Holocaust. Deren Nachkommen leben heute über die ganze Welt verstreut.

Viele von ihnen haben Bernd-Dieter Röhrscheid und Udo Holzenthal bisher nicht veröffentlichtes Material, so zum Beispiel Fotos aus dem Familienalbum, zur Verfügung gestellt. Die privaten Erinnerungen der Willicher Juden sind auf diese Weise zum zentralen und gleichzeitig beeindruckendsten Bestandteil der Neuerscheinung geworden.

Das Buch sei „gegen das Vergessen“ geschrieben worden“, berichten die beiden Autoren im Vorwort. Und zitieren den Talmud: „Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist.“ Röhrscheid und Holzenthal gelingt es, die Namen und das Schicksal von Menschen wie Sally Kaufmann in Erinnerung zu rufen. Auch heutigen Lesern wird dabei vor Augen geführt: Die ab 1933 Ausgegrenzten, Vertriebenen, Ermordeten waren zuvor noch Nachbarn, Kollegen, Freunde gewesen.

Rund 100 Gäste kamen vor wenigen Tagen ins Schloss Neersen, um bei der Vorstellung des Buches dabei zu sein. Unter ihnen George van Praag (seine Mutter Margot Rübsteck hatte den Holocaust in den Niederlanden überlebt) und Ingrid Conzen mit Familie. Deren Großvater Ernst Kaufmann, ein zum Katholizismus konvertrierter, zwangspensionierter Bankdirektor, starb 1942 in Berlin, weil ihn kein Arzt behandeln wollte. Auch Ernst Kaufmann war ein angesehener Mann.

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