Dr. Michael Buscher: „Die Inklusion wird die Schullandschaft verändern“

Dr. Michael Buscher und Dr. Ingo Spitczok von Brisinski von der LVR-Klinik in Süchteln zum Thema Inklusion.

Manche Schüler profitieren vom gemeinsamen Lernen, andere fühlen sich an Förderschulen besser aufgehoben. Foto: Archiv/OBK

Manche Schüler profitieren vom gemeinsamen Lernen, andere fühlen sich an Förderschulen besser aufgehoben. Foto: Archiv/OBK

Viersen. Sie ist ein idealer Mikrokosmos für Inklusion: Rund 190 Kinder und Jugendliche aller Altersstufen lernen in der Hanns-Dieter-Hüsch-Schule des Landschaftsverbands Rheinland (LVR). Viele haben eine psychische Störung, manche außerdem eine geistige Behinderung, andere haben rein körperliche Erkrankungen wie Diabetes oder eine Knieverletzung.

Viele Schüler kommen aus Regelschulen und werden an Regelschulen zurückkehren, wenn sie wieder gesund sind. An der LVR-Schule lässt sich daher viel über Inklusion lernen. Wir sprachen mit Dr. Michael Buscher und Dr. Ingo Spitczok von Brisinski, Chefärzte der Kinder- und Jugendpsychiatrie der LVR-Klinik in Süchteln, über Fallstricke der Inklusion und das, was für ihr Gelingen nötig ist.

Was sind Ihre Erfahrungen mit Inklusion?

Michael Buscher: Wir machen die Erfahrung, dass Kinder mit einer Intelligenzminderung ein erhöhtes Risiko haben, an einer psychischen Störung zu erkranken, weil sie oft sehr empfindsam sind. Es kann leicht passieren, dass Kinder Depressionen oder Ängste entwickeln, wenn sie sich ständig überfordert fühlen und die Erfahrung machen „Ich kann das nicht“.

Aber ein Argument für Inklusion ist doch, dass alle Schüler voneinander lernen. Die Schwachen von den Starken, und die Starken auch von Schwachen.

Ingo Spitczok von Brisinski: Ja, das wird gern von den Inklusionsbefürwortern behauptet. Empirische Studien aus anderen Ländern zeigen aber, dass das Lernen an gemeinsamen Orten und an spezialisierten Orten gleichwertige Ergebnisse bringt. Das entkräftet allerdings auch das Argument der besorgten Eltern, die glauben, ihre hochbegabten Kinder kämen in inkludierten Klassen zu kurz.

Es klingt trotzdem nicht so, als seien Sie große Freunde der Inklusion.

Buscher: Man kann nicht sagen, dass Inklusion per se gut ist. Genauso wenig lässt sich leugnen, dass es Kinder gibt, die davon profitieren. Man darf die Förderschulen nicht verteufeln. Es gibt Kinder, die an der Regelschule deutlich mehr leiden, weil sie nicht akzeptiert sind, weil sie sich überfordert fühlen, weil sie immer dem Stoff hinterherhecheln . . . Gemeinsamer Unterricht setzt ein allmähliches Umdenken bei allen voraus und eine intensive sonderpädagogische Unterstützung.

Und wie entscheidet man so etwas?

Buscher: Das ist genau der Punkt. Wir müssen gemeinsam mit den Eltern sorgfältig hinschauen, an welche Schule sie ihre Kinder schicken. Die Situation ist sehr unübersichtlich, und deshalb bräuchten wir eine Art Navigationssystem für die Inklusion. Es gibt bei den Eltern großen Beratungsbedarf.

Der Viersener Rat hat abgelehnt, die Anne-Frank-Gesamtschule und das Clara-Schumann-Gymnasium zu „Orten des gemeinsamen Lernens“ zu machen, weil dort Räume fehlten, in denen Förderlehrer Kinder separat unterrichten konnten. Darf das sein?

Spitczok von Brisinski: Eine räumliche Differenzierung ist tatsächlich oft wichtig und notwendig.

Was braucht es, damit Inklusion gelingen kann?

Spitczok von Brisinski: Es braucht neben einer guten Beratung und Navigation durch die Schullandschaft eine gute personelle Ausstattung an den Schulen.

Buscher: Es braucht gute inklusive Orte außerhalb der Schule. Wir alle müssen uns auf mehr Kommunikation einlassen. Sowieso ist Inklusion nicht ausschließlich eine Schulfrage, sondern eine gesellschaftliche Aufgabe. Wir haben zurzeit in unserer Gesellschaft einen extrem hohen Normalitätsanspruch. Schule ist dabei genau der Kristallisationspunkt, an dem die Normen gesetzt und eingefordert werden. Dazu gehört auch, dass wir alles Nicht-Normale wegfördern wollen. Doch wir müssen uns auch die Frage stellen, wie viel Förderung bekömmlich ist und wann es an der Zeit ist, Behinderung zu akzeptieren.

Wird es irgendwann keine Förderschulen mehr geben?

Buscher: Die Inklusion wird die Schullandschaft verändern. Aber wie genau, das kann man noch nicht sagen. Möglicherweise findet eine Verdichtung von Kindern mit besonderen Problemen an den Förderschulen statt.

Wann ist Inklusion Ihrer Ansicht nach gelungen?

Buscher: Schwierige Frage. Inklusion ist gelungen, wenn jeder in der Lage ist, seine Potenziale zu nutzen und einzubringen.

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