Alphabetisierung: Endlich richtig lesen können

Rund 70 000 Menschen am Niederrhein können nicht schreiben. Brigitte Küllertz lernt es gerade.

Niederrhein. Selbstbewusst legt die junge Frau ein Kärtchen mit einer ungewöhnlichen Aufschrift auf den Tisch: "Ich kann nicht lesen und schreiben. Bitte helfen Sie mir." Brigitte Küllertz lächelt: "Solche Karten benutzen Betroffene in Hamburg, ich finde, die sollte man hier auch einführen."

Aus gutem Grund: Die Zahl der Analphabeten am Niederrhein liegt nach Schätzungen in den Kreisen Viersen und Neuss, in Krefeld und Mönchengladbach bei knapp 70 000. Nur wenige nutzen wie Brigitte Küllertz die Möglichkeit, etwa an Volkshochschulen lesen und schreiben zu lernen. "Ich bin ja nicht dumm, weil ich nicht lesen und schreiben kann, das hat mit Intelligenz nichts zu tun", sagt die 21-jährige Viersenerin.

Andere indes hielten sie für dumm: in der Schule Außenseiterin, gehänselt, Sonderschule, heute Küchenhilfe in einem Krefelder Altenheim. Brigitte Küllertz gehört zu den so genannten funktionalen Analphabeten, die nur wenige Wörter schreiben oder entziffern können.

Für das Leben im Alltag reicht das nicht: "Ich konnte keine Speisekarte lesen oder Straßenschilder, einfach nichts", erzählt sie. Dazu kamen die Hemmungen: "Man traut sich nichts zu sagen, weil man nicht ernst genommen wird." Beamte und Arzthelferinnen "halten einen für blöd, weil man keine Formulare ausfüllen kann".

In ihrer Familie wurde immer viel gelesen - "nur bei mir ging es einfach nicht". Ursache: Legasthenie, Schreib- und Leseschwäche, vermutlich neurologisch bedingt. Brigitte fühlte sich minderwertig: "Meine Mutter und meine Oma haben mir Mut gemacht, Oma hat mich schließlich vor drei Jahren bei der Kreisvolkshochschule angemeldet." Seitdem nimmt sie an den Kursen "Lesen und Schreiben lernen" teil.

"Wir sind eine nette Gruppe, man hilft sich gegenseitig, das macht sogar Spaß." Dazu Kursleiterin Beatrix Konnen: "Es ist unser Prinzip, in der Lerngruppe den Teamgeist zu fördern, das motiviert die Teilnehmer."

Solche Kurse an Volkshochschulen bekannt zu machen, ist Ziel der Aktionswoche Alphabetisierung, die noch bis heute läuft. Brigitte Küllertz, damals 18, lernte so fleißig und engagiert, dass sie mittlerweile eine Selbsthilfegruppe Betroffener ehrenamtlich betreut, an Tagungen des Bundesverbandes Alphabetisierung teilnimmt. Mit Ingo Hartmann vom Hamburger "Alpha-Team" tauscht sie sich im Chatroom aus: "Die hatten die tolle Idee mit den Kärtchen."

Im Chat, per-E-Mail schreibt sie zwar "nicht fehlerfrei", aber verständlich; sie traut sich, alleine mit der Bahn zu fahren. "Ich muss noch viel lernen, aber das klappt dank der Kurse, wie man bei mir sieht." Mit neuem Mut hat sich die junge Viersenerin viel vorgenommen: "Ich will mindestens meinen Hauptschulabschluss nachholen und Altenpflegerin werden."

Nur bei Behördengängen und Arztbesuchen, da kommt Brigittes Mutter noch mit: "Wegen der Formulare, die sind zu kompliziert für mich." Noch.

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