MICHI MACHT Der Affe und der Elefant kommen in Einklang

Anrath · Tai Chi? Mal gehört, nie gemacht. Es wurde Zeit die unbekannte Bewegungskunst einmal auszuprobieren. WZ-Redakteur Michael Sender absolvierte eine Probestunde im Park.

 Beim Tai Chi ist Konzentration gefragt. Das Hier und Jetzt ist von zentraler Bedeutung. Es ist ein Spiel der Gegensätze.  Lehrmeister Werner Kühne (in schwarz) übt jeden einzelnen Tag. 

Beim Tai Chi ist Konzentration gefragt. Das Hier und Jetzt ist von zentraler Bedeutung. Es ist ein Spiel der Gegensätze.  Lehrmeister Werner Kühne (in schwarz) übt jeden einzelnen Tag. 

Foto: Lübke, Kurt (kul)

„Lass dich bloß nicht verprügeln“, rief meine Kollegin Stefanie Keisers noch scherzhaft, als ich zum Ausgang der Redaktion marschierte. Weise Worte, die mich an diesem warmen Sommerabend gedanklich begleiteten. Auf dem Weg nach Anrath ging mir Steffis eindringlicher Hinweis nicht aus dem Kopf. Was würde mich wohl erwarten? Eigentlich hatte ich mich informieren wollen, kam nicht mehr dazu. Nun wusste ich nicht, ob ich es überleben würde. Tai Chi. Mal gehört, nie gemacht. Über ein Kennenlernen, das mehr als 35 Jahre auf sich warten ließ.

In der Schnupperstunde schwingt die Ungewissheit mit

Der Turnverein Anrath hatte mir Schnuppertermine zukommen lassen. Kann ja nicht verkehrt sein, mal was Asiatisch-Exotisches auszuprobieren, dachte ich. Nur ich. An jenem Donnerstag ließ sich sonst niemand auf das Ungewisse ein. Am Treffpunkt vor der Turnhalle an der Neersener Straße wartete ein einsamer Mann mit zwei Umhängetaschen.

Werner Kühne ist mein Lehrmeister. 30 Jahre im Vertrieb hatte er hinter sich. Irgendwann war genug und er wechselte die Branche. Eigentlich ist er selbständig im Bereich der betrieblichen Gesundheitsberatung. Corona hat ihm einen Strich durch die Rechnung(en) gemacht und so musste er nach einer Alternative suchen. Bei der Stadt Mönchengladbach wurde er fündig und arbeitet momentan im Impfzentrum. In seiner Freizeit fährt er auch gerne Fahrrad. Ein „Bio-Bike“, wie er scherzhaft sagt, also ein Velo ohne Elektronik, da müsse man noch ordentlich treten. Wir spazieren zum gegenüberliegenden Park. Seine beiden Taschen legt er auf eine Bank nieder.

„Das richtige Ambiente ist wichtig“, sagt Werner Kühne. Ein Ort, der sauber ist. Müll gehöre da einfach nicht hin. Das sehe ich auch so. Wir entfernen den Abfall auf der grünen Wiese mitten im Theodor-Heuss-Park. Die Vögel zwitschern. „Ich werde dich in dieser einen Stunde nach vorne bringen“, verspricht der Übungsleiter. Tai Chi sei eine innere Kampfsportart. Dann bin ich wohl Experte: Ich kämpfe täglich mit mir. Begrüßung und Verabschiedung sind ein Ritual und gehören immer dazu. Mit der Faust in der flachen Hand verneigen wir uns voreinander.

Langsam, langsam – der Alltag mit Kaffee arbeitet in mir

Die Atmung spielt eine zentrale Rolle im Tai Chi. Einatmen bis zur Baumspitze, ausatmen bis zur Grashalmwurzel. „Du hast keine körperlichen Vorschäden“, will mein Lehrer festgestellt haben. Wenn er nur wüsste. Allein meine Plauze... Wir stellen uns auf ein Bein und lassen das andere aus der Hüfte schwingen, vor und zurück – einem Tipp-Kick-Spieler ähnlich, nur sanfter. Wir wechseln die Seiten, lassen das andere Bein dann auch kreisen. „Während der Aufwärmübungen kannst du wunderbar nachdenken: Frühstück, Mittag, was ist heute passiert, was will ich noch machen. Das nimmt mit jeder weiteren Form ab. Gleich denkst du nur noch an die Übung.“ 

Wir machen die Hüfte locker, formen die Hände so, als würden wir einen Tennisball halten und lassen die Handgelenke kreisen. „Das Gehirn ist jetzt beschäftigter als zuvor.“ Ich konzentriere mich, höre zu, mache mit und nach oder versuche es zumindest. Vom Einfachen zum Schweren, kenne ich vom Sportstudium. Es folgen erste Kombinationen aus Ober- und Unterkörperbewegungen. „Langsam, langsam“, sagt Werner. Ich bin ihm zu hastig. Warum bin ich nur so unruhig? Der Alltag mit Kaffee arbeitet in mir. Ich denke an den Text, den ich über dieses Rendezvous schreiben werde. Ob ich es wirklich schaffe, die Gedanken loszuwerden, um mich gänzlich auf die Bewegungen einzulassen?

„Wir wollen das Chi wecken.“ Was auch immer das bedeutet. Einatmen, aufrichten, ausatmen, fallen lassen. „Alles, was du diese Woche gemacht hast, einfach auf den Boden runterklatschen lassen“, sagt Werner. Wenn das so einfach wäre. Beim Einatmen ist der Blick zwischen die angehobenen Arme und Hände gerichtet. Dann mit Schwung die Arme fallen, Beine dabei auf und ab federn lassen. „Das ist chinesische Gymnastik. Jetzt gehen wir tiefer. Dafür brauche ich deinen ganzen Kopf.“ Wie tief will er mich nur mitnehmen?

Der geschmeidige Grobmotoriker kämpft mit seinen Gedanken

Alle Finger bis auf Zeigefinger und Daumen sind eingeknickt. Dadurch werden Meridianpunkte angeregt. Die zwölf Meridiane sind ein Grundkonzept aus der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM). Die Stimulierung der virtuellen Linien im Körper regulieren die Energiezirkulation. Sechs Meridiane beginnen in den Händen und sechs in den Füßen. Sie sind mit Organen verbunden. Werner wird im Laufe meiner Probestunde noch öfter darauf zu sprechen kommen, ohne zu sehr ins Detail zu gehen. Das würde mich nur ablenken. „Denk immer an die Atmung. Das öffnet dir die Lungen und Nasenflügel.“ Er zeigt mir einen längeren Bewegungsablauf mit langsam fließenden Arm- und Beinbewegungen. Bei der Eigenausführung soll ich mir vorstellen, ein Blatt Papier zwischen den Händen zu halten, welches nicht zerreißen darf. Geschmeidigkeit ist gefragt. Ich bin eher grobmotorisch veranlagt.

Werner spricht vom Atem, der sich zwischen den Schulterblättern sammelt. Er sagt, dass zwischendurch Lachen erlaubt sei. Später werde ich auf den Fotos unseres Fotografen Kurt Lübke sehen, dass ich stets eine versteinerte Miene mache. Mein ernster Blick ist nicht nur der Konzentration auf Werners Darbietungen geschuldet. Ich lache gerne, aber wohl dosiert. Das ständige Klicken und die Anwesenheit der Fotokamera lenken mich ab, umso mühsamer wirkt mein Gesichtsausdruck. Ich bin kein Posterboy. Das erwartet der Lehrmeister auch nicht. Er versucht mich zu entspannen. Es ist, wie er eingangs erwähnt hatte: ein innerer Kampf mit mir selbst.

Tai Chi ist eine Aneinanderreihung von Figuren zu einer Form, die gelaufen wird. Man nennt dies auch Bewegungsmeditation. „Die Geschwindigkeit, in der wir uns im Tai Chi bewegen, entspricht der natürlichen Atemgeschwindigkeit“, erklärt Werner. „Das ist so langsam, dass wir die Aufmerksamkeit nicht verlieren. Und es ist nicht so schnell, dass wir in die Alltagsgeschwindigkeit kommen.“ Bei Alltagsbewegungen legen wir im Vorhinein fest, was wir tun. Werner veranschaulicht mir das mit dem Griff nach einem imaginärem Buch. „Dabei sind wir schon in Gedanken bei der nächsten Handlung. Die Aufmerksamkeit im Tai Chi aber wird ganz auf die Bewegung gelenkt. Die entsprechende Geschwindigkeit dafür ist bei allen Menschen gleich. Deshalb können wir solche Formen zusammen machen.“

Motivation durch positive Rückmeldungen

Um diese Formen zu laufen, brauchen wir Prinzipien und die geeigneten Figuren dazu. Deshalb werden die Abläufe meistens mit Bildern beschrieben. Wir üben den Bogenschritt. Ausgangsstellung der Beine ist diagonal schulterbreit. Dabei wird mit dem Körperschwerpunkt und den Spannungen der verschiedenen Muskelgruppen gespielt. Das vordere Knie ist eingeknickt, geht aber nicht über die vordere Fußspitze, das hintere Bein ist leicht gestreckt. Wir gehen zurück, als würden wir uns auf einen Hocker setzen. „Das vordere Bein wird dadurch leer. Der Bauch soll die Bewegung führen, der Blick folgt dem Körper.“ Gar nicht so einfach auszuführen, dabei ist es eine Anfängerübung. Als ehemaliger Leistungssportler möchte ich es schnell hinkriegen und setze mich unter Druck. Kontraproduktiv. Werner spürt das, sagt aber nichts. Überhaupt fokussiert er sich auf positive Rückmeldungen. Tai Chi braucht nunmal Zeit. Das weiß er aus seiner jahrelangen Übung.

In China ist Tai Chi ein Volkssport. Werners Erzählung zufolge treffen sich dort teils Hundertschaften zum gemeinsamen Training. Oder allein. Ganz egal. In Asien wird es überall gemacht, auch am Straßenrand.  Werner übt jeden einzelnen Tag. Seitdem er Taijiquan (so heißt es eigentlich) macht, hat sich sein Leben verändert. „Ich sehe die Welt mit anderen Augen. Mich bringt so schnell nichts aus dem Gleichgewicht.“ Seine Überzeugung: Der Kopf ist der Gouverneur! Solange der Körper nicht schmerzt, macht er nichts, außer der Kopf sagt ihm, was zu tun ist. Durch Tai Chi lasse sich das ändern. So komme es zu einer Art Verschmelzung zwischen Körper, Geist und Seele. Bis dieser Punkt erreicht ist, bedarf es Geduld und Ausdauer. Ich schmelze dahin. Solche Aussagen sind Balsam für mein Gemüt. Seit Langem sehe ich unserem gesellschaftlichen Treiben skeptisch bei der Selbstvernichtung zu und mache ja doch irgendwie mit. Tai Chi legt den Schwerpunkt auf das Hier und Jetzt. Alles andere ist Nebensache. Die schwere Last wird abgelegt. Klingt das nicht wunderbar?

Bilder aus Fernost: die Mähne teilen und das Tier vertreiben

Wir erden und ankern. Der Affe und der Elefant kommen in Einklang. Seltsame Metapher. Für Werner haben diese Bilder mit Entspannung zu tun. Ich bin skeptisch. „Die meisten Menschen in unseren Breitengeraden denken bei Entspannung eigentlich an Zerstreuung. Couch, Chips und Fußballgucken zum Beispiel.“ Er verbildlicht es mit Autoblech: „Diese Art von Entspannung ist wie ein Autoblech einzudrücken, zu zerbeulen. Mit Tai Chi versuchen wir das Blech wieder in den Ursprungszustand zu bringen.“ Kopf und Geist in eine natürliche Ausgangslage bringen, so dass sie sich austauschen können. Ein Heilungsprozess. Ent-spannen und ent-wickeln. Klingt verlockend. Ich bleibe erstaunlich konzentriert.

Als Nächstes soll ich so tun, als würde ich in einen Taschenspiegel schauen. Später üben wir „die Mähne zu teilen“ und auch „den Affen vertreiben“. Klingt lustig, ist es aber nicht. Jede Figur entspringt einer Kampfsportübung. Da sei die Stellung der Zunge zu berücksichtigen. Ist sie oben an den Gaumen gelegt, lassen sich unsere Gedanken besser scharfstellen, weil die Elsterbrücke dann geschlossen sei. Und nicht zu vergessen: Man beißt sich nicht auf den Zipfel. „Ist die Zunge nach unten gespannt, ist der Meridian offen und hindert dich aufmerksam zu sein“, sagt Werner.

Mehr als eine Stunde ist vorbei. Ich musste keinen Schlägen ausweichen und lebe noch, aber meine Aufmerksamkeit ist aufgebraucht. Es war ein langer Tag und Tai Chi verlangt eine Menge Energie. Der Akku ist leer. Zum Schluss zeigt mir Werner noch sein großes Kampfgerät. Es ist ein historisches Schwert, deshalb braucht er keinen Waffenschein.

Ich bin dankbar für den Einblick in eine andere und in meine innere Welt. Es ist eine Art Horizonterweiterung. Gleichzeitig bin ich erleichtert, als ich wieder im Auto sitze, das Radio anmache und mich zurückzulehne. Berieselung. „Du brauchst noch ein paar Jahre, bis du auf Tai Chi zurückkommst“, hat Werner zum Abschied gesagt. Mit Mitte 30 sei das noch etwas früh, glaubt er. Tai Chi ist der Kampfsport der Alten, heißt es im chinesischen Volksmund. Noch bin ich wohl nicht so weit.

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