Nettetal: Ein ganzes Leben im Dorf

Vor 50 Jahren wurde Matthias Gellen Knecht auf einem Bauernhof – der Vertrag wurde per Handschlag besiegelt.

Nettetal. Matthias Gellen ist der letzte Knecht in Nettetal, vielleicht sogar am ganzen Niederrhein. Als er vor kurzem 75 jahre alt wurde, feierte er zugleich sein 50-jähriges Dienstjubiläum als Knecht. Im Laufe der Jahre hat sich diese uralte Berufsbezeichnung im offiziellen Sprachgebrauch gewandelt - vom "landwirtschaftlichen Gehilfen" ist heute die Rede.

Gellen blickt auf ein arbeitsreiches Leben zurück, das von Schicksalsschlägen nicht verschont wurde. 1935, wenige Jahre vor Beginn des Zweiten Weltkriegs, wurde er als sechstes von elf Kindern im heutigen Nettetaler Ortsteil Leuth geboren.

Als es auf das Ende des Krieges zuging, wurde die ganze Stadt evakuiert, die Familie Gellen mit ihren elf Kinden wurde zurückgelassen, wie Gellen erzählt. Am Tag der Befreiung, es war der 1. März 1945, kam ein Pferdegespann mit deutschen Soldaten in den Ort. Bei einer zufälligen Begegnung mit US-Soldaten flüchteten die Deutschen, ihr Wagen kippte in einen Straßengraben. Dabei fiel ein großer Vorrat an Brot und sonstigen Lebensmitteln in den Graben. "Davon konnte unsere Großfamilie eine ganze Weile leben", sagt der 75-Jährige über das unverhoffte Glück.

Wenig später aber ereignete sich eine Tragödie: Sein Bruder Hubert und das Nachbarskind Rosemarie spielten in einer Scheune mit einer Granate - plötzlich gab es einen lauten Knall. "Als ich mich auf den Weg zur Scheune machen wollte, kam mir Hubert blutend entgegen. Ein Arm war abgerissen, das Gesicht völlig zerstört". Das Mädchen war von der Detonation sofort getötet worden. Obwohl sich amerikanische Sanitäter gleich um den Schwerverletzten kümmerten, starb er zwei Tage später.

Mit 17 Jahren musste Matthias Gellen auf Druck des Vaters in einer Dachziegelei anfangen. Seinen Lohn musste er zu Hause abgeben. "Der Vater drohte uns Söhnen, dass wir zuhause rausfliegen, wenn wir nicht in der Dachziegelei arbeiten würden." Jegliche Wünsche der Kinder seien ignoriert worden, so wollte etwa Matthias Gärtner werden. Nach den harten Schichten in der Ziegelei arbeitete er dann noch beim Nachbarn, einem Gemüsgärtner.

Vor 50 Jahren löste er sich dann von seinem Elternhaus und verdingte sich als Knecht gegen Kost und Logis und einen kleinen Monatslohn auf einem Bauernhof mit Ackerbau, Kühen und Schweinen. Der Vertrag wurde per Handschlag geschlossen.

Als der Bauer alt und pflegebedürftig wurde, kümmerte er sich bis zum Tod um ihn, das selbe tat er für seine Chefin, zu der er in den letzten Jahren "Mutter" sagte. Nun pflegt er das Grab der beiden auf dem Leuther Friedhof. Nebenbei hilft er in einer Gärtnerei. "Gärtner sein, das ist mein Leben." Über die Jahre ist er zum Experten für den Anbau von Kohl und Porree, von Erdbeeren und Spargeln geworden.

Ansonsten genießt der Mann, der nun wieder mitten im Dorf lebt, die Zeit als Rentner, unternimmt täglich kleine Fahrradtouren. Richtigen Urlaub hat er nie gemacht, und die Gegend nur einmal verlassen: Auf Einladung seines Stammlokals nahm er an einer Brauerei-Besichtigung im Sauerland teil.

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