Debatte um Impfschutz Masern: Kampf um Herdenschutz

Kempen/Kreis Viersen · Der Kreis Viersen erfüllt bei Masern die erforderliche Impfquote von 95 Prozent. Zur geforderten Impfpflicht gibt es von Experten differenzierte Meinungen.

 Ein Pikser, der eine Erkrankung verhindern kann: Ein Arzt führt eine Masern-Impfung durch.

Ein Pikser, der eine Erkrankung verhindern kann: Ein Arzt führt eine Masern-Impfung durch.

Foto: dpa/Patrick Seeger

Es war so etwas wie der Klassiker in der politischen Kommunikation. Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) fordert in einem Interview mit der „Bild am Sonntag“ im Kampf gegen Masern eine Impfpflicht samt horrender Bußgelder und schon diskutiert die Republik seit dem Wochenanfang heftig über den Gesetzesentwurf. Der Grund für Spahns Vorstoß: In einigen Regionen Deutschlands werde die angestrebte Impfquote bei Masern von 95 Prozent nicht mehr erreicht. Mit einer Pflicht will der Minister nun den Impfgegnern beikommen. Ziel sei, diese Krankheit auszurotten, so Spahn in mehreren folgenden TV-Interviews.

Dr. Geuchen: Das Handwerkszeug ist bereits vorhanden

Dieses Ziel kann der Kempener Kinderarzt Dr. Karl Geuchen nur unterstützen. Es sei eine gesellschaftliche Aufgabe, dass Masern und andere Krankheiten, die sich durch Impfungen verhindern lassen, sich auch nicht mehr verbreiten, so Geuchen im Gespräch mit der WZ. Eine generelle Impfpflicht und entsprechende Strafen bei Nichteinhaltung müsse man aber differenziert betrachten. „Aus meiner Sicht ist das Handwerkszeug vorhanden, um die Impfquoten auch zu erfüllen. Die Mittel, die zur Verfügung stehen, müssten nur korrekt angewendet werden“, sagt der Mediziner.

Damit zielt der Kempener vor allem auf das System der vorgeschriebenen Vorsorgeuntersuchungen ab. Bei allen gesetzlich vorgesehenen Untersuchungen im Kindesalter seien die Kinderärzte angehalten, über das Impfen zu informieren und den aktuellen Impfstand des Kindes nachzuvollziehen. „Im Vorsorgeheft wird ja auch vermerkt, dass der Arzt zum Thema Impfen aufgeklärt hat“, so Geuchen. Zudem werde der aktuelle Impfstand für die Eltern dokumentiert. Dieser sei extern nicht sichtbar. Die Praxen würden einen großen bürokratischen Aufwand betreiben, um die sogenannten U-Untersuchungen entsprechend zu dokumentieren. Wenn Eltern ihr Kind zur Vorsorgeuntersuchung vorgestellt haben, werde dies den Behörden mitgeteilt – also sogenannte Positiv-Meldung.

Jugendämter seien bei U-Untersuchung in der Pflicht

Genau da sieht Geuchen einen Anhaltspunkt, um die Impfquoten zu erhöhen. Denn die Ämter hätten ja den Auftrag die Eltern zu kontaktieren, die mit ihrem Kind nicht bei der Vorsorge waren. Durch den Behördenkontakt ließen sich Eltern zum einen zu den Vorsorgeuntersuchungen und zum anderen auch zum Impfen motivieren. „Meine Erfahrung ist aber, dass die Jugendämter zum Teil so überlastet sind, dass die Nachkontrollen gar nicht erfolgen“, sagt Geuchen. Der Staat sollte in diesem Bereich den Hebel ansetzen.

Ebenso sieht Geuchen Kinder- und Hausärzte in der Pflicht, das Thema Impfen immer wieder mit den Patienten zu besprechen. „Aus meiner Sicht sind es in unserer Region weniger ideologische Gründe, wenn nicht geimpft wird. Es ist eher die Vergesslichkeit oder das Unwissen der Leute“, so der Kempener Arzt. In der Gemeinschaftspraxis Karl Geuchen/Frank Brenner würden auch stets die Eltern gefragt, ob ihr eigener Impfschutz noch ausreichend sei, um Ansteckungen innerhalb der Familie ausschließen zu können. „Schon gleich bei der ersten Untersuchung nach der Geburt eines Kindes“, ergänzt Karl Geuchen.

Spahns Gesetzesentwurf und die Diskussion darüber könne nun helfen, das Thema in den Köpfen der Menschen zu verankern. „Ob eine Impfpflicht und entsprechende Strafen letztlich überhaupt umzusetzen sind, muss sicher noch bewertet werden“, sagt Geuchen. Es stehe das Recht des Einzelnen einer möglichen Gefährdung Aller gegenüber – das gelte es abzuwägen. Vor allem müssten für die Ärzte auch rechtliche Grundlagen geschaffen werden.

Ein weiterer „Player“ im System sei zudem die Pharmaindustrie, wie Geuchen anmerkt. „Derzeit ist es in Deutschland überhaupt nicht möglich, nur gegen Masern zu impfen“, sagt der Mediziner. Die Masern-Impfung gebe es derzeit nur als Dreifach-Schutz – zusammen mit den Wirkstoffen gegen Mumps und Röteln. „Was mache ich also, wenn jemand der Impfpflicht bei Masern nachkommen, die anderen Wirkstoffe aber nicht haben will?“

Aus den Statistiken des Gesundheitsamtes wird deutlich, dass im Kreis Viersen die viel zitierte 95-Prozent-Quote bei Masern wohl erfüllt wird. Beim Einschuljahrgang 2018/19 seien 99,3 Prozent der Kinder einmal und 96,4 Prozent der Kinder zweimal gegen Masern geimpft gewesen. Dies ist bei der Einschulungsuntersuchung, bei der Eltern und Kinder erstmals in Kontakt mit dem Kreisgesundheitsamt kommen, festgestellt worden. Einschränkend müsse man aber anführen, dass bei 10,2 Prozent der Kinder bei der Einschulungsuntersuchung kein Impfheft vorgelegt worden sei, ergänzt Martina Kruß, Leiterin des Kreisgesundheitsamtes.

„Grundsätzlich ist die Quote im Kreis Viersen sehr ordentlich“, so Kruß. Mit Blick auf die 10,2 Prozent ohne Impfheft bei der Untersuchung könne man aber nicht mit absoluter Gewissheit vom vollständigen Herdenschutz sprechen. Von daher bestehe der Ansporn, an dieser Zahl zu arbeiten, um für mehr Gewissheit zu sorgen.

Die Zahlen seien – nicht nur im Kreis Viersen – durch die sogenannte Beratungspflicht der Ärzte angestiegen, ergänzt die Amtsleiterin. Mit dieser jährlich zu den U-Untersuchung durchgeführten Beratung sei man auf einem guten Weg, findet Martina Kruß. Wenn die Vorsorgeuntersuchungen versäumt würden, sieht sie – ähnlich wie Kinderarzt Geuchen – die Jugendämter in der Pflicht.

Den aktuell diskutierten Entwurf des Bundesministeriums begrüßt die Amtsärztin aus dem Kreis Viersen: „Ich finde den Vorstoß gut.“ Mit Blick auf Gemeinschaftseinrichtungen wie Kitas und Schulen sei die Impfpflicht ein probates Mittel. Da müsse man auch das Personal im Blick haben. „Insbesondere die Geburtsjahrgänge von 1970 bis Anfang der 1980er Jahre“, so Kruß. Schließlich gebe es in Deutschland eine nahezu flächendeckende Masernimfpung erst ab Anfang der 80er Jahre. Und bei den Jahrgängen vor 1970 gingen Mediziner davon aus, dass eine Erkrankung erfolgt sei und somit eine lebenslange Immunität bestehe.

Ebenso gehöre eine Pflicht-Impfung des Personals in medizinischen Einrichtungen wie Krankenhäusern in das Gesetz, ergänzt Kruß. „Es wäre ja schon ein Widerspruch, wenn ein Arzt oder ein Krankenpfleger, der selbst nicht geimpft ist, ein an Masern erkranktes Kind behandelt.“

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