Ermittlungen nach Kita-Mord Grausame Serie und so viele Fragen

Kempen/Viersen · Nach der mutmaßlichen Gewalt-Serie in Kitas und dem Mord an einem Mädchen ist das Entsetzen groß – die Behörden müssen sich vielen Fragen stellen.

 In der Kempener Kita „Mullewapp“ war Sandra M. von August 2018 bis Juli 2019 tätig.

In der Kempener Kita „Mullewapp“ war Sandra M. von August 2018 bis Juli 2019 tätig.

Foto: Reimann, Friedhelm (rei)

Entsetzen und Fassungslosigkeit. Das sind die Gefühlsregungen, die wohl die meisten Menschen nach Bekanntwerden der grausigen Taten einer 25-jährigen Erzieherin aus Geldern empfinden. Der Frau wird vorgeworfen, ein dreijähriges Mädchen in einer Viersener Kita am 21. April so schwer verletzt zu haben, dass es am 4. Mai gestorben ist. Der Vorwurf lautet „heimtückischer Mord“. Ebenso sieht die Polizei den Verdacht bestätigt, dass die 25-Jährige ein zweijähriges Mädchen in einer St. Töniser Kita im Oktober 2019 verletzt hat. Hier lautet der Vorwurf „Misshandlung von Schutzbefohlenen in Tateineinheit mit Körperverletzung“.

Den Ermittlern war am Donnerstag bei der Pressekonferenz das Erschrecken anzusehen. Und zwar deshalb, weil diese beiden Taten wohl nicht die einzigen in den vergangen drei Jahren waren. Ermittelt wird weiter in ähnlichen Fällen mit verletzten Kindern in Krefeld, wo die Frau von 2017 bis 2018 ihr Anerkennungsjahr absolviert hat. Ebenso in der Kita „Mullewapp“ der Stadt Kempen, wo Sandra M. von 2018 bis 2019 mit einem einjährigen Zeitvertrag ausgestattet war. Dort soll es viermal zu Vorkommnissen mit einem zweijährigen Jungen gekommen sein. In allen Fällen befanden sich die Kinder im Mittagsschlaf und wirkten dann apathisch oder verkrampft. Atemstillstände gab es beim Mädchen in Viersen und nach Informationen der WZ auch beim Jungen in Kempen. In allen Fällen war die mutmaßliche Täterin offenbar auch an den Rettungsmaßnahmen beteiligt.

Konkrete Erkenntnisse zu Tathergang und Motiv hat die Polizei weiterhin nicht. Die Beschuldigte selbst hat immer noch keine Aussage gemacht. Vermutet wird eine psychische Störung. Diese Vermutung fußt unter anderem auf einem angeblichen Überfall an der Frau, den sie im Mai 2019 aber selbst erfunden hatte, so die Polizei. Die entsprechenden Verletzungen habe sie sich damals selbst zugefügt, heißt es in den Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft Kleve.

Bei der Frage danach, wie diese schrecklichen Taten geschehen und bis zum mutmaßlichen Mord in Viersen nicht entdeckt werden konnten, stehen auch die Behörden in Krefeld und im Kreis Viersen im Fokus. Vor allem die Stadt Kempen, weil diese am Anfang der Woche nach ersten Medienberichten mitgeteilt hatte, dass es keine entsprechenden Vorfälle in der Kita gegeben habe, wegen derer es interne behördliche Ermittlungen oder Anhaltspunkte für eine Fremdeinwirkung gegeben habe. Diese Aussage der Stadt kam deshalb zustande, weil die Staatsanwaltschaft wegen der laufenden Ermittlungen verfügt hatte, dass die Kommunen nicht kommunizieren dürfen. Das erneuerte Bürgermeister Volker Rübo am Freitag im Gespräch mit der WZ.

Und mit dieser Aussage hat die Stadt Kempen auch keinesfalls die Unwahrheit gesagt. Denn es gab im Anschluss an die Vorfälle mit dem zweijährigen Jungen keine Ermittlungen. „Mit dem Kind gab es innerhalb von etwa vier Monaten vier entsprechende Vorfälle“, so der Bürgermeister. „Und in allen Fällen ist uns nach der medizinischen Untersuchung im Krankenhaus nicht signalisiert worden, dass eine Fremdeinwirkung vorliegen könnte. Es gab keine Anhaltspunkte dafür.“ Die Verletzungen des Jungen seien in Kempen genau nach dem Schema behördlich behandelt worden, wie vom Landesjugendamt vorgeschrieben. Diese Vorgänge habe die Stadt auch alle dokumentiert.

In der Tat scheint es sehr schwierig zu sein, nachzuweisen, dass die Verletzungen der Kinder gewaltsam herbeigeführt worden sind. Das hatte auch schon Chefermittler Guido Roßkamp am Donnerstag auf Nachfrage gesagt. Denn im Fall der toten Greta aus Viersen haben die Mediziner erst acht Tage nach der Einlieferung des Kindes ins Krankenhaus die Polizei eingeschaltet. Erst dann seien entsprechende Erkenntnisse erhärtet und andere medizinische Ursachen ausgeschlossen gewesen, so Roßkamp.

Sowohl Greta als auch der Junge aus Kempen wurden in der Kinderklinik des Allgemeinen Krankenhauses Viersen behandelt. Das sagte Bürgermeister Rübo am Freitag. Und aus der Klinik habe es keine Hinweise oder Vermutungen auf solche Taten gegeben. Details zu den möglichen anderen Ursachen für die Atemprobleme des Jungen liegen offiziell noch nicht vor. Polizei und Staatsanwaltschaft untersuchen die Unterlagen aus dem Krankenhaus noch. Nach Informationen der WZ wurde unter anderem eine chronische Erkrankung des Jungen vermutet. „Ich hoffe sehr, dass diese schrecklichen Taten weiter aufgeklärt werden können“, so Rübo. Die Stadt Kempen werde die Staatsanwaltschaft dabei mit allem unterstützen.

Ebenso ratlos stehen die meisten Menschen vor der Frage, warum so eine Frau überhaupt Erzieherin werden und in kürzester Zeit in mehreren Kitas arbeiten konnte. Denn die Ermittler betonten am Donnerstag, dass auf allen Arbeitsstellen früh klar gewesen sei, dass Sandra M. wenig geeignet für diesen Beruf sei. In Krefeld sei dies schon nach wenigen Tagen im August 2017 offensichtlich gewesen, zitierte Kriminaldirektor Manfred Joch aus den Zeugenvernehmungen der Krefelder Kita-Leitung.

Die schulische Ausbildung hat die Beschuldigte am Kempener Berufskolleg gemacht. Der Kreis Viersen bestätigte am Freitag, dass Sandra M. vom 1. August 2014 bis 31. Juli 2018 ihrer Erzieherinnen-Ausbildung am Standort Kempen absolviert hat. Im letzten Ausbildungsjahr machte sie ihre praktische Anerkennung in einer Kita der Stadt Krefeld. Schon vor der Erzieherinnen-Ausbildung war die junge Frau aus Geldern an der Kempener Berufsschule: von 2012 bis 2014 hat sie die Fachhochschulreife im Zweig „Gesundheit und Soziales“ erworben.

Mit der staatlichen Anerkennung und einem polizeilichen Führungszeugnis stellte sich Sandra M. bei der Stadt Kempen vor und wurde zum 1. August 2018 mit einem Jahresvertrag eingestellt. In der sechswöchigen Probezeit seien die Leistungen nicht so schlecht gewesen, dass man das Arbeitsverhältnis hätte beenden müssen, so Kempens Bürgermeister Rübo. „In diesen System der Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern ist doch allen klar, dass die Leute direkt nach der Ausbildung nicht fertig sind“, sagte Rübo. Die ersten Berufsjahre seien weiterhin Lehrjahre. Dennoch hatte die Stadt Kempen später Zweifel an der Eignung und verlängerte den Jahresvertrag nicht. „Dies wurde ihr im Mai 2019 mitgeteilt“, so Rübo. Danach sei sie nur noch selten zum Dienst erschienen und häufig krank gewesen.

Dass Sandra M. in den vergangenen Jahren aber völlig problemlos von Krefeld über Kempen und Tönisvorst nach Viersen wechseln konnte, bezeichnete Kempens Jugenddezernent Bennet Gielen am Freitag als „großes Problem in diesem System“. „Der personelle Markt im Bereich der Kinderbetreuung ist so erschöpft, dass alle Träger händeringend suchen“, so Gielen. Von daher hätte die 25-Jährige wohl in jeder anderen Kommune eine neue Stelle gefunden. Offenbar hatte sie nach ihrer Kündigung in Viersen auch schon wieder eine neue Stelle in Aussicht, wie verschiedene Medien berichten.

Unter den Eltern sowie Erzieherinnen und Erziehern der Kita „Mullewapp“ sei die Fassungslosigkeit groß. „Aber eigentlich bei allen Mitarbeitern der Stadt Kempen“, so der Bürgermeister. Das Ausmaß sei allen während der Pressekonferenz am Donnerstag deutlich geworden. Mit den Eltern stünden die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in engem Kontakt. „Alle, die Sorgen und Nöte haben, können sich an uns wenden“, so Bennet Gielen. Am Anfang der Woche habe er einige Anrufe gehabt. Von Eltern, die wegen anderer Verletzungen ihrer Kinder aus der besagten Zeit Sorgen haben. „Das wird alles genauestens überprüft. Und ich kann dann nur raten, die Polizei einzuschalten“, so Gielen.

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