55 Jahre Schulgeschichte Kempens Realschule ist Geschichte

Kempen. · Mit der letzten Verabschiedung von Abschluss-Schülern am Dienstag schloss die Schule ihre Pforten für immer. Mit ihrer Bildungsarbeit und ihren kulturellen Impulsen hat sie das Leben in der Stadt geprägt.

 Von 1965 bis 1969 zog sich der Bau der Kempener Realschule hin. Der Boom der 1960er-Jahre machte Arbeitskräfte und Material knapp.

Von 1965 bis 1969 zog sich der Bau der Kempener Realschule hin. Der Boom der 1960er-Jahre machte Arbeitskräfte und Material knapp.

Foto: Archiv Realschule

Anfang der 1960er-Jahre herrscht in der Bundesrepublik „Bildungsnotstand“, vor allem zur Heranbildung des Ingenieur-Nachwuchses fehlen weiterführende Schulen. Vor diesem Hintergrund beschließt am 29. Januar 1963 der Kempener Kreistag die Errichtung einer Kreisrealschule in Kempen. Zu ihrem Leiter wird Herbert Hubatsch bestimmt. Als Nachtjagdpilot am Niederrhein hängen geblieben, unterrichtet der gebürtige Schlesier seit 1953 Biologie und Deutsch am Irmgardis-Stift in Süchteln. Ein Unikum: In einem Nebengebäude der neuen Kempener Schule, auf demselben Hof, sollen fünf Klassen des Kreis-Abendgymnasiums unterkommen.

 Herbert Hubatsch war der erste Rektor der Realschule.

Herbert Hubatsch war der erste Rektor der Realschule.

Foto: Franz-Heinrich Busch

Ganz im Stillen hat im Juli 1965 auf einem Weizenfeld an der Wachtendonker Straße in Kempen, hinter der Tankstelle Wabersek, der Schulbau begonnen. Bis er fertig ist, organisiert Hubatsch für die ersten beiden Anfangsklassen drei Räume in seiner alten Schule. Sechs Wochen lang pendeln die ersten 80 Realschüler per Bus zwischen Kempen und Süchteln hin und her. Dann kommen sie in einer Baracke unter, in Rekordzeit errichtet auf dem Hof der Kempener Knabenvolksschule (heute: Martin-Schule). Aber im Bau-Boom der 1960er-Jahre sind Material und Arbeiter knapp. Erst am 8. September 1966 wechseln die Realschüler, brav in Zweier-Reihen marschierend, aus der Knabenvolksschule in das Gebäude des späteren Abendgymnasiums, das als Erstes bezugsfertig ist. Am 7. September 1967 kann der Neubau der Kempener Realschule von den nunmehr elf Klassen schließlich bezogen werden. Am 18. Juni 1968 werden als letzte Gebäude Aula und Turnhalle eingeweiht. 1977 wird die Realschule von der Stadt Kempen übernommen.

 Mit dem täglichen Pendelbus nach Süchteln begann 1964 die Geschichte der Kempener Realschule.

Mit dem täglichen Pendelbus nach Süchteln begann 1964 die Geschichte der Kempener Realschule.

Foto: Archiv Realschule

Rasch tritt die neue Schule mit Aktivitäten hervor: mit Theaterprojekten und kreativem Kunstunterricht; seit 1983 mit dem Fach Informatik, zunächst noch auf privat besorgten Computern. Mit Schulfesten, mit sozialem Engagement. Mit Fürsorge gegenüber den Schülern und einem festen Zusammenhalt des Kollegiums unter fähigen Schulleitern. Kempens Realschule ist seit ihrer Gründung bis zu ihrem Auslaufen eine Erfolgsgeschichte gewesen. Ursprünglich zweizügig geplant, ist sie zu Beginn des Schuljahres 2000/2001 mit 864 Schülern sechszügig. Längst hat sie das Gebäude, das zunächst dem Abendgymnasium zugedacht war, übernommen. Mit großem Engagement plant Albert Schwarz, Schulleiter von 1995 bis 1999, den fälligen Neubau. Am 14. August 2000 ist er so weit fertig, dass zu Beginn des neuen Schuljahres die sechs Siebener-Klassen einziehen können. Am 23. November 2000 wird er eingeweiht und geht allmählich in vollen Betrieb.

 Erst 1969 war das Hauptgebäude der neuen Realschule an der Wachtendonker Straße komplett eingerichtet. Im Physiksaal erwartete auf dieser Aufnahme die Klasse 10 a den Unterrichtsbeginn.

Erst 1969 war das Hauptgebäude der neuen Realschule an der Wachtendonker Straße komplett eingerichtet. Im Physiksaal erwartete auf dieser Aufnahme die Klasse 10 a den Unterrichtsbeginn.

Foto: Archiv Realschule

Herbert Hubatsch begründete den Schüleraustausch mit England

 Elterninitiative wurde an der Kempener Realschule immer groß geschrieben – zum Beispiel durch die so genannten Frühstücksmütter, die ab 1996 ein gesundes Schulfrühstück zubereiteten.

Elterninitiative wurde an der Kempener Realschule immer groß geschrieben – zum Beispiel durch die so genannten Frühstücksmütter, die ab 1996 ein gesundes Schulfrühstück zubereiteten.

Foto: Hans Kaiser

Der Gründungs-Schulleiter Herbert Hubatsch hat die Schule noch lange geprägt. Jahrzehnte nach seinem Abgang war auf seine Initiative hin Skifahren ein fester Unterrichtsgegenstand: seit 1971 in Hitzenlinde im Allgäu, seit 1975 auf dem Feldberg im Schwarzwald, seit 1979 schließlich auf den Hängen am Brauneck bei Lenggries/Oberbayern, wo Herbergsmutter Erika den Kempenern jeden Wunsch von den Augen ablas. Auch für Skischulbesitzer Kaspar Hecher gab’s „koane Probleme net“. Aber allmählich stiegen die Preise, und in den Nullerjahren fand die letzte Ski-Tour statt. Ebenso begründete der Direktor einen Jahrzehnte langen Austausch mit England. Wie’s dazu kam? 1970 unterstand die Realschule noch dem Kreis. Also schloss sie sich der Partnerschaft des Kreises Kempen-Krefeld mit der Grafschaft Cambridge an. Schulleiter Herbert Hubatsch knüpfte Kontakte zum Village College Bottisham. Erstmals im September 1972 erschienen 31 Girls and Boys mit vier Lehrern als Gäste in Kempen. Dazu kamen seit 1995 durch den Englisch- und Niederländischlehrer Rudi Reinke Kontakte in die Niederlande zum Varendonck-College in Asten und seit 2000 durch die Französisch- und Englischlehrerin Erika Eickholt die Teilnahme am Austausch mit der Kempener Partnerstadt
Orsay.

Dann bekommt die Schule einen Eigennamen: Seit dem 1. August 2002 heißt sie nach dem sozialkritischen Schriftsteller und Kinderbuchautor Erich Kästner. Seine Romanfiguren Pünktchen und Anton bilden nun das Schul-Emblem, untertitelt von „Gemeinsam auf dem Weg ins Leben!“ Um die Schüler auf diesem Weg möglichst fit zu machen, entwickelt das Realschul-Kollegium eine Fülle von Initiativen: 1982 ein gründlich vorbereitetes Betriebspraktikum; 1993 Sponsorenläufe für gute Zwecke; 2002 die Einrichtung einer „Grashüpfer“-Gruppe zur Neugestaltung des Schulhofs, einer Streitschlichter-Gruppe zur Beilegung von Schülerkonflikten und einer Bläserklasse. 2005 nehmen Bus Scouts ihre Arbeit zur Verhinderung von Vandalismus während der Busfahrten auf, 2009 wird eine feste Schulband gegründet und ein jährlich stattfindender Sozialer Tag eingeführt. Einige Beispiele von vielen. Fazit: Im Juli 2011 erhält die Kempener Realschule vom NRW-Bildungsministerium das „Gütesiegel für Individuelle Förderung“.

Ein Jahr später zeichnet sich das Ende ab. An der Kempener Hauptschule wird gute pädagogische Arbeit geleistet, aber landesweit ist die Schulform nicht mehr gefragt, auch in Kempen gehen die Anmeldungen zurück. Wenn die Martin-Schule angesichts drastisch abnehmender Schülerzahlen es nicht schafft, zweizügig zu bleiben, muss sie in einer Gesamtschule aufgehen. Das aber würde eine Kettenreaktion auslösen, denn – so folgert die Landesregierung – neben einer Gesamt­schule und zwei Gymnasien könne sich auch die Erich Kästner Schule – zweitgrößte Realschule in NRW – nicht mehr halten. Dabei hatte sie 2012 noch 121 Anmeldungen, 2013 werden es 149 sein. Aber: Die bestehenden Schulgebäude im Schulzentrum reichen nicht aus, neben einer fünf- bis sechszügigen Gesamtschule noch eine kleinere – voraussichtlich zweizügige – Realschule mit Schulräumen zu versorgen. Eine politische Entscheidung, die einer höchst erfolgreichen Schule den Todesstoß versetzt.

Im Stadtrat ist Widerstand nicht zu erwarten. SPD und Grüne hatten die Gesamtschule immer wieder gefordert. Für die CDU ist die Sache mittlerweile klar: Ein weiterer Widerstand ist zwecklos. Im Juni 2013 stimmen die Eltern der Grundschulkinder per Erhebungsbogen ab. Die Mindestzahl von 100 positiven Stimmen für die Gesamtschule wird deutlich überschritten. Am 17. Oktober 2013 stimmt Kempens Rat der Einrichtung einer Gesamtschule in der Thomasstadt zu. Fazit: Zum Beginn des Schuljahrs 2014/15 startet die neue „Städtische Gesamtschule Kempen“ im ehemaligen Hauptschulgebäude an der Fröbelstraße mit sechs Klassen pro Jahrgang. Bleibt die Frage, ob in Kempen vier Oberstufen – zwei an den Gymnasien, je eine am Berufskolleg und an der Gesamtschule – nebeneinander werden bestehen können.

Ihren Abschied gestaltet die Kempener Realschule so, wie man’s von ihr gewohnt ist: bescheiden, aber effektiv. Vor kurzem wurde im Rathausfoyer ohne jedes Aufheben eine Ausstellung aufgehängt, die die 55-jährige Schulgeschichte auf 230 großformatigen Bildern in allen Einzelheiten dokumentiert. Am Dienstag vollzog die Schule im Kempener Kolpinghaus mit der Zeugnisvergabe des Abschlussjahrgangs vor geladenen Gästen ihren letzten Festakt. An dessen Ende stand eine besondere Feierlichkeit aus Anlass der Schulschließung. Höhepunkte waren Reden des Kempener Bürgermeisters Volker Rübo, der Dezernentin der Bezirksregierung Christiane Borchers und des Schulleitungsteams unter der letzten Leiterin Cornelia Klasen. Bei dieser Gelegenheit wurde ein Erinnerungsbuch mit dem Titel „Unsere Realschule Kempen 1964-2019“ präsentiert und erstmals zum Verkauf angeboten.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort