Kempen Nächste Stolpersteine für Kempen

Kempen. · Unter den Nationalsozialisten litten auch in Kempen viele Juden. Für sie werden am Montag mehrere Stolpersteine verlegt.

 Unter anderem für Simon Winter (hier mit Enkelin Mirjam, heute Honig) wird ein Stolperstein verlegt.

Unter anderem für Simon Winter (hier mit Enkelin Mirjam, heute Honig) wird ein Stolperstein verlegt.

Foto: Archiv Mirjam Honig

Bei einer feierlichen Zeremonie werden Schüler der Haupt- und Gesamtschule, des Berufskollegs, Thomaeums und des Luise-von-Duesberg-Gymnasiums am Montag die Biografien der Opfer des Naziterrors vorlesen. Die musikalische Begleitung übernimmt die Cellistin Julia Polziehn. Was haben die Menschen, derer jetzt gedacht wird, durchlebt?

Der Viehhändler Isidor Rath, wohnhaft im ersten Stock des heutigen „Treppchen“ an der Ellenstraße, wurde 1935 durch Nürnberger Rassegesetze ein Mensch zweiter Klasse und fand keine Kunden mehr. Er verstarb 1936 in Kempen, seine Frau Julie zwei Jahre später. Tochter Erna, in Kempen als Sängerin beliebt, trat 1938 zum katholischen Glauben über, um zu überleben. Sie schloss eine Scheinehe mit einem 14 Jahre älteren Holländer und emigrierte in die Niederlande. Dort wollte der Mann entgegen der Vereinbarung seine ehelichen Rechte gegenüber der attraktiven Frau durchsetzen. Es kommt zur Trennung. Erna Rath fristet schließlich ihren Lebensunterhalt dadurch, dass sie für fremde Leute näht und taucht unter der deutschen Besatzung unter.

Das Haus der vier Schwestern Ajakobi, Josefstraße 7, wird im November zum „Judenhaus“ 1941 erklärt, das heißt, es gehört zu den Gebäuden, in denen Juden zum Wohnen zusammengezogen werden, damit man sie dann leichter deportieren kann. Im Krieg wird es zerstört. Die Schwestern werden im Juli 1942 nach Theresienstadt deportiert und von dort weiter in das KZ Treblinka, wo sie umkommen.

Simon Winter kämpfte in
zwei Kriegen auf deutscher Seite

Als Beispiel für die Verfolgung Kempener Juden soll das Schicksal des Vieh- und Textilhändlers Simon Winter dargestellt werden, 1844 in Kempen geboren. Sein langes Leben spiegelt mehrere Kapitel deutscher Geschichte. Als junger Mann setzte Winter in zwei Kriegen sein Leben als Soldat für Deutschland ein: Er kämpfte 1866 für das Königreich Preußen gegen Österreich und nahm 1870/71 am Krieg gegen Frankreich teil.

1898 richtete Winter an der Ellenstraße 5 ein Geschäft für Wäsche und Kurzwaren ein. Seinen Handel mit Rindvieh betrieb er weiter. Als er 86 Jahre alt war, setzte Winter sich 1930 zur Ruhe. Sein Textilwarengeschäft übergab er an Tochter Henriette, die man in Kempen Jettchen nannte. Am 30. Januar 1933 kamen die Nazis an die Macht. Am Samstag, 1. April 1933, führten sie in ganz Deutschland eine Hetzaktion gegen jüdische Geschäfte durch – auch in Kempen. Auf die Schaufensterscheiben der jüdischen Einzelhandelsgeschäfte wurden Plakate geklebt wie: „Deutsche, wehrt euch – kauft nicht bei Juden!“ Auch das Fenster des Textilwarengeschäfts von Simon und Jettchen Winter wurde mit solchen Parolen versehen. Am 15. September 1935 verkündeten die Nazis die Nürnberger Rassegesetze. Sie legten fest, dass die Juden außerhalb des deutschen Volkes stehen sollten. Als Folge traute sich kein Kempener Bürger mehr in Simon Winters Geschäft. Er musste es aufgeben.

Dann kommt es zur Pogromnacht. Am 9. und 10. November 1938 brennen in ganz Deutschland Synagogen; die Nazis verwüsten Wohnungen und Geschäfte der Juden. In Kempen finden die Aktionen am Vormittag des 10. November 1938 statt. Um 10 Uhr morgens plündern SA-Männer die Synagoge an der Umstraße, zerschlagen das Mobiliar und zünden das Gebäude an. Dann nehmen sie sich die jüdischen Geschäfte und Wohnungen vor, zerstören die Einrichtung, werfen die Trümmer und zerschlagenen Waren auf die Straße.

SA-Leute schlagen dem 93-jährigen Kempener ins Gesicht

Kempen, 10. November 1938, Ellenstraße 5. Ein Trupp SA-Männer stürmt in den Kurzwarenladen der jüdischen Familie Winter, zerschlägt die Regale, wirft Stoffe und Wäsche auf die Straße. Dann wenden sie sich der darüberliegenden Wohnung zu. Hier tritt ihnen der 93-jährige Simon Winter entgegen. Die Kempener SA-Männer schlagen dem alten Mann ins Gesicht, er stürzt zu Boden. Seine fünfjährige Enkelin Elsa sieht mit an, wie die Wohnungseinrichtung zerschlagen wird.

Als die Nazis die Wohnung verlassen haben, stürzt die Familie Winter, der alte Simon, seine Kinder Henriette und Salomon sowie seine Enkelin Elsa in Panik aus dem Haus. Das sehen an der anderen Seite der Ellenstraße die Besitzer des Hauses Nummer 37: Es gehört dem damaligen Leiter der Kempener DRK-Sanitätskolonne, Wilhelm Heinen, und seiner Frau Margaretha. Sie öffnen den verstörten jüdischen Nachbarn die Tür und bringen sie für mehrere Tage in den Mansardenzimmern im dritten Stock des 1996 abgerissenen Gebäudes unter. Die Heinens versorgen die Versteckten mit Essen, andere Mitglieder des Roten Kreuzes, zum Beispiel die Näherin Elisabeth Wolters von der Peterstraße, helfen.

Propaganda der Nazis hatte
ihre Spuren hinterlassen

Die fünfjährige Propaganda der Nazis hat auch in Kempen gewirkt. Trotzdem fühlen viele sich von den Ausschreitungen gegen die Juden, mit denen sie viele Jahre in guter Nachbarschaft gelebt haben, abgestoßen. Das Bewusstsein der meisten Menschen ist damals zwiespältig. Einerseits bewundern sie die Leistungen des nationalsozialistischen Staates, vor allem die Beseitigung der Arbeitslosigkeit. Andererseits lehnen die meisten offene Gewalt gegen wehrlose Menschen ab.

Bei vielen Kempenern hat Simon Winter, der als tapferer Soldat und solider Geschäftsmann bekannt ist, immer noch einen guten Ruf. Der ranghöchste Nationalsozialist in der Stadt ist damals der Ortsgruppenleiter der NSDAP, Franz Hauzeur. Im schützenden Dunkel einer Novembernacht transportiert er den alten Simon Winter auf dem Gepäckträger seines Fahrrads in das Kempener Krankenhaus, das von katholischen Ordensfrauen geleitet wird. Die Ursulinen stellen dem alten Mann ein Bett zur Verfügung und versorgen seine Wunden im Gesicht.

Als bekannt wird, was Hauzeur für den jüdischen Nachbarn getan hat, wird er abgesetzt. Trotzdem gewährt Anfang März 1939 der Kempener Bürgermeister Gustav Mertens in aller Stille dem alten Winter ein zinsloses Darlehen, damit er die hohen Abgaben entrichten kann, die einem Juden für die Emigration ins Ausland vorgeschrieben sind.

Denn Winter hält es in Kempen nicht mehr aus. Er möchte zu seinem Sohn Karl Winter, der Deutschland mit seiner Familie bereits 1936 in die Niederlande gegangen ist. Im April 1940 trifft Simon Winter bei seinem Sohn, seiner Schwiegertochter und seinen Enkelkindern in Eindhoven ein. Als der Vater altersschwach wird, bringt Karl Winter ihn in einem. Jüdischen Altenheim in Amsterdam unter.

Dort ist der 97-jährige Simon Winter am 12. Januar 1941 gestorben. Sein Sohn war bei ihm, als er starb. Die Niederlande waren zwar schon seit dem Mai 1940 von der deutschen Wehrmacht besetzt. Aber um beim Vater sein zu können, hatte Karl Winter sich von der deutschen Kommandantur in Amsterdam eine Genehmigung beschafft. Auf dem jüdischen Friedhof in Amsterdam ist Simon Winter begraben. An der Stolperstein-Verlegung für ihn und seine Familie möchte auch seine Enkelin Mirjam, verheiratete Honig, teilnehmen. Sie ist 96 Jahre alt und lebt in einem Altenheim in Eindhoven.

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