Architekten der Demokratie

Am Freitag jährt sich der Tag der Staatsgründung. WZ-Redakteur Axel Küppers lässt drei prominente Kempener Polit-Zeitzeugen zu Wort kommen.

<h3 style="text-align: center;">Christel Scommoda: Flucht und Vertreibung

Christel Scommoda (73) ist am 23.Mai 1949 14 Jahre alt. Nach Flucht und Vertreibung aus dem ostpreußischen Königsberg lebt die spätere Kempener FDP-Politikerin in Sterup bei Flensburg. Die Mutter ist in den Wirren der Flucht gestorben, den Vater hat es nach der Gefangenschaft nach Schleswig-Holstein verschlagen. Zunächst im Waisenhaus, stößt sie als junge Frau zu ihm.

In Norddeutschland beendet Christel Scommoda ihre Schulzeit und beginnt eine kaufmännische Lehre. Mit der Staatsgründung endet die aufreibende Zeit der Flucht, hin und her gerissen an den Ostsee-Gestaden zwischen den militärischen Mahlsteinen jener Zeit. "Für uns Kinder war die Staatsgründung nicht so bedeutend. Ich erinnere mich aber daran, dass wir andere Scheine im Portmonee hatten."

1953 geht es nach Karlsruhe, wo der Vater wieder in den gehobenen Beamtendienst kommt. "Dort konnte auch ich beim damaligen Postscheckamt in den öffentlichen Dienst als spätere Beamtin wechseln", erinnert sich Christel Scommoda.

1960 heiratet die damals 25-Jährige den Ingenieur Siegfried Scommoda. Wegen dessen Beruf geht es ins Rheinland, zuerst nach Wuppertal, 1967 nach Kempen. 1964, noch in Wuppertal, kommt der Sohn zur Welt.

Seit 1972 wohnen die Scommodas im eigenen Haus in St.Hubert. "Wir fühlen uns in unserer Wahlheimat sehr wohl." Eine Persönlichkeit vom Schlage Hildegard Hamm-Brücher ist ausschlaggebend, dass Christel Scommoda 1986 den Weg in die aktive Politik findet und in die FDP eintritt. Seit 1989 sitzt sie im Stadtrat, ist zehn Jahre Vizebürgermeisterin.

Ihre Biografie bringt es mit sich, dass sie ihr Schicksal nicht nur an das der Bundesrepublik knüpft, sondern über den Tellerrand blickt: "Ich bewundere beispielsweise eine Frau wie Hillary Clinton."

Erwin Stahl (78) ist knapp 18 Jahre, als die Geburtsstunde der Bundesrepublik schlägt. Nach fünf Jahren in polnischen Internierungslagern ist der spätere Bundestags-Abgeordnete für die SPD gerade über die "Grüne Grenze" nach Uelzen geflüchtet.

Kurz darauf geht es nach Mülheim, wo Stahl im Bergbau unter Tage arbeitet und Mittlere Reife sowie Fach-Abitur nachholt und die Bergbauschule absolviert. Die Eltern sind nach Polen in die Nähe von Thorn ausgewandert, wo sie einen Bauernhof bewirtschaften.

Im Krieg flüchtet die Familie zuerst vor der einmarschierenden deutschen Armee, später vor dem russischen Militär. "Es war eine schlimme Zeit", erinnert sich Stahl. Damit meint er sowohl die Kriegswirren als auch die Zeit danach mit Repressalien im polnischen Lager.

Die Geburtsstunde der Bundesrepublik erlebt Stahl insofern als Beginn einer neuen, besseren Zeit. Stahl, der 1956 zur Zeche Niederrhein wechselt und 1962 nach Tönisberg kommt, krempelt die Ärmel hoch, dieses Staatsgebilde nach Kräften zu unterstützen: 1964 tritt er in die SPD ein, Willy Brandts Ostpolitik mit der Verneigung vor Polen ist der Grund.

1972 kommt er in den Bundestag, wird der Vertraute von Herbert Wehner und bestimmt ab 1978 als Staatssekretär im Forschungs-Ministerium maßgeblich die Politik mit. "Wir können zufrieden und ein wenig stolz sein auf dieses Land, das wir geschaffen haben", sagt Stahl heute zurückblickend.

Nach dem Fall der Mauer zieht es ihn, der mittlerweile in der Kempener Altstadt ein denkmalgeschütztes Haus bewohnt, wieder in den Osten. In der Lausitz saniert Stahl den Energie-Riesen "Schwarze Pumpe", wo anfangs 15 000 Menschen in Lohn und Brot stehen.

Heute genießt der Vater von drei Söhnen und Opa von sieben Enkeln wieder das Altstadthäuschen, reist gerne nach Südschweden zu seinem Bauernhof und wartet ein wenig ungeduldig auf den ersten Urenkel, der sich angekündigt hat.

Julius Louven (76) ist 16 Jahre, als das Grundgesetz verabschiedet wird. Der St.Huberter ist mit Politik aufgewachsen. "Meine Eltern hatten ein Gasthaus, dort wurde viel politisch diskutiert", erinnert sich Louven, der von 1980 bis 2002 für die CDU im Bundestag sitzt und an der Seite von Norbert Blüm die Sozialgesetzgebung bestimmt hat.

Sein Vater Alfons, später Bürgermeister in St.Hubert, aber auch Schuldirektor Heinrich Aversiers prägen das Verständnis des jungen Julius Louven für die staatspolitischen Zusammenhänge jener Zeit. "Wir durften während des Krieges nicht ins Wohnzimmer, wenn mein Vater BBC-Nachrichten hörte- das war unter Todesstrafe verboten", sagt Louven nachdenklich.

1947 tritt er in Hüls eine Bäckerlehre an. An dieses "schreckliche Jahr 1947" erinnert sich Louven lebhaft: "Es gab oft kein Mehl, keine Briketts, die Leute standen Schlange für Brot, aus Hüls marschierten Flüchtlingsströme Richtung Kempen." Nach der Bäckerlehre schließt er gleich noch eine Ausbildung als Konditor an. Auch in der Backstube geht es viel um Politik, schließlich ist endlich Frieden und das Grundgesetz in Kraft.

Julius Louven ist immer politisch interessiert: Zwei Jahre nach der Staatsgründung schreibt er in der Berufsschulklasse7 einen Aufsatz, der wegweisend werden soll: "Was die Europa-Union will." Nach sechs harten Lehrjahren tritt Louven schließlich 1958 der CDU bei, 1962 geht es in den Rat der damals noch selbstständigen Gemeinde St.Hubert, 1964 in den Kreistag.

An die turbulenten Jahre in Bonn, wo er sich als sozialpolitischer Sprecher der CDU-Bundestags-Fraktion hitzige Debatten mit der Opposition liefert, erinnert er sich gerne.

Ein pragmatischer Querdenker ist Julius Louven geblieben. "Ich sehe mich als kritischer Beobachter." In der CDU wird ihm zu wenig diskutiert, zu wenig hinterfragt. Ihn, der diesen nunmehr 60-jährigen Staat von den Anfängen an miterlebt und mitgestaltet hat, stimmt das heute zuweilen nachdenklich.

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