Soziales in Wülfrath, Mettmann und Erkrath Pflege zieht die Notbremse: „Es geht einfach nicht mehr“

Wülfrath/Mettmann/Erkrath · Die Sommerwelle von Corona trifft auf die Ferien und Fachkräftemangel. Die Pflegenden in Wülfrath, Mettmann und Erkrath können nicht mehr.

 So kann es nicht weiter gehen: Gerhard Schönberg, Sylvia Broekmann und Petra Weihsenbilder (v.l.) von der Bergischen Diakonie weisen auf die großen Missstände in der Pflegebranche hin. Es fehlt Personal, Mitarbeitende sind ausgebrannt.

So kann es nicht weiter gehen: Gerhard Schönberg, Sylvia Broekmann und Petra Weihsenbilder (v.l.) von der Bergischen Diakonie weisen auf die großen Missstände in der Pflegebranche hin. Es fehlt Personal, Mitarbeitende sind ausgebrannt.

Foto: Ja/Blazy, Achim (abz)

Betten, die unbesetzt bleiben. Mitarbeiter, die bis zu zwölf Tage am Stück arbeiten. Aufgaben, die liegen bleiben. Gestresstes und überarbeitetes Personal – all das sind die Folgen von jahrelangem Fachkräftemangel, der nun durch die Corona-Sommerwelle und die Sommerferien deutlich verschärft wird. „Die Pflege duckt sich immer klassisch weg, erträgt es und macht einfach. Doch es geht nicht mehr“ – das sagt Sylvia Broekmann, Bereichsleiterin des Altenhilfe-Verbunds der Bergischen Diakonie. Am Dienstag zieht sie mit einer Pressekonferenz die Notbremse.

Nicht allein die Corona-Sommerwelle mache es Einrichtungen schwer. Die Kombination aus Urlaubszeit, gepaart mit Krankmeldungen und dem Fachkräftemangel in der Pflegebranche bereitet den Einrichtungen große Probleme. Um darauf aufmerksam zu machen, wenden sich Broekmann, Gerhard Schönberg vom Vorstand der Bergischen Diakonie und Petra Weihsenbilder, Einrichtungsleiterin von Haus Karl Heinersdorff und Haus Otto der Diakonie, an die Öffentlichkeit.

„Am Flughafen werden Flüge gecancelt, die Bahn stellt Fahrten ein, doch wir können nicht einfach die Pflege ausfallen lassen. Die Mitarbeiter gehen auf dem Zahnfleisch“, schildert Sylvia Broekmann. Zum Teil arbeite das Personal zwölf Tage am Stück, erhält Einspringprämien als Ansporn. Doch mittlerweile gebe es niemanden mehr, der für einen erkrankten Kollegen einspringen könne. Zum Teil verzichten sie auf freie Tage oder kehren aus dem Urlaub zurück. Dadurch nehme die Belastung zu – auch die gesundheitliche für jede einzelne Pflegefachkraft.

Wülfrath

An Spitzentagen fehle aktuell bis zu 30 Prozent der sonst 531 starken Belegschaft. Das liege nicht nur an der Urlaubszeit und den Krankmeldungen. Denn alleine am Standort in Wülfrath sind zehn Stellen unbesetzt. „Die Mitarbeiter sind erschöpft, sind sauer, sind verzweifelt, die Nerven liegen blank“, beschreibt Petra Weihsenbilder die Stimmung in der Belegschaft.

Das Unternehmen sei bemüht um zusätzliches Personal, doch der Markt sei leer gefegt, da alle Pflegeeinrichtungen suchen. „Wenn Sie Mitarbeiter aus dem Ausland anwerben, werden Ihnen diese quasi von anderen abgeworben“, nennt Gerhard Schönberg ein Beispiel. Zusätzliches Geld durch Corona-Prämien etwa seien nur ein „Trostpflaster“. Der Beruf müsse attraktiver gemacht werden. Dabei spiele Geld eine Rolle, aber vor allem auch, dass das Personal wieder Zeit für sich selbst habe. „Wir haben verschiedene Angebote für die Mitarbeiter, aber es hat gar keinen Sinn, diese aktuell anzubieten, weil es dafür keine Zeit gibt“, ergänzt Sylvia Broekmann. Eine Fachkraft muss momentan für bis zu 15 Bewohner sorgen. Sonst sind es bis zu zehn, merkt Einrichtungsleitung Petra Weihsenbilder an.

Eine Problemlösung liege nicht bei einem einzelnen Träger, sondern muss insgesamt erfolgen, ist sich Schönberg sicher. Dazu gehöre auch, bürokratische Hürden zu minimieren. Grundsätzlich müsse die Arbeit in der Pflege entbürokratisiert werden, damit mehr Zeit für die Arbeit am Menschen selbst bleibe, betont Broekmann. „Wir sind so überreguliert.“

Die Konsequenz aus der aktuellen Akutsituation: Die Diakonie lässt freie Betten unbesetzt, nimmt keine neuen Bewohner auf. Von den rund 850 Betten im Altenhilfe-Verbund sind 14 Prozent nicht genutzt. „Im Durchschnitt sind das fünf Betten pro Einrichtung in Oberdüssel“, sagt Weihsenbilder. Dabei ist die Nachfrage nach Plätzen extrem hoch.

Mettmann

Jedes einzelne Wort davon kann Anja Tatarevic unterschreiben. Sie ist stellvertretende Leiterin im Carpe Diem in Mettmann. „Nach zwei Jahren Pandemie sind wir alle müde. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kommen zum Dienst und funktionieren.“ Oft müssten Doppelschichten gefahren werden. In der ambulanten Pflege werden Touren zusammengelegt – alles nur damit das System irgendwie funktioniert. Als es neulich heiß war, haben sie am Carpe Diem den Eiswagen bestellt. Jeder konnte sich ein großes Eis holen. Das war schön, sagt Anja Tartarevic: „Aber nur ein Tropfen auf dem heißen Stein.“

Im Seniorenzentrum Haus St. Elisabeth stützt sich Geschäftsführer Stefan Wigge zurzeit auf Zeitarbeitskräfte, die in der Pflege unterstützen. „Deren Honorar ist durch keinen Pflegesatz gedeckt. Wir müssen draufzahlen.“ Aber anders sei die Arbeitslast zurzeit nicht zu bewältigen: Die Sommerwelle Corona trifft auf die Sommerferien – irgendwie muss es weitergehen. Von „großen Herausforderungen“ spricht auch der Leiter des Seniorenheim Neandertal. Wer wegen Corona ausfalle oder positive Fälle in der Familie habe, sei nur sehr schwer zu ersetzen.

Erkrath

Laut Philipp Kohn, der die Altenpflege-Einrichtung Haus Bavier in Alt-Erkrath leitet, ist die Personalsituation dort derzeit „angespannt, aber beherrschbar“. Quarantänefälle plus Urlaubszeiten machen dem Haus zu schaffen, und dann gibt es ja auch noch andere Erkrankungen als Corona, die mit Personalausfällen zu Buche schlagen.

Genaue Zahlen mochte Philipp Kohn nicht nennen. „Der Sommer ist für uns immer eine rödelige Zeit. Aber noch niemals zuvor derart wie in den drei Corona-Sommern“, berichtet er. Das Haus Bavier behelfe sich mit Personal von externen Firmen, Zeitarbeitsfirmen. Betreut werden in Haus Bavier derzeit 155 Bewohner mit einem Pflegegrad zwischen 2 und 5. Dafür sind 160 Mitarbeiter im Einsatz.

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