St. Pius: Geschwungene Formen aus hartem Beton

Die Sommer-Serie der Westdeutschen Zeitung: „Neue Steine des Glaubens“ lädt zur Wiederentdeckung des Baus moderner Kirchen, Synagogen und Moscheen ein, die oft zu Unrecht im Schatten mittelalterlicher Dome stehen. Dieser Teil der Serie gilt der 1966 erbauten Kirche St. Pius in Neuss.

Neuss. Wenn Architektur nicht viel muss, ermöglicht das ungewohnte Freiheiten. Die hat sich Joachim Schürmann genommen, als er 1966 die katholische Kirche St. Pius im Neusser Stadionviertel plante und baute. Auf dem Spaziergang vom Lukaskrankenhaus durch die Virchowstraße bis zum Piuskirchplatz drängt sich sein massiver Betonbau schnell in die zentrale Blickachse.

St. Pius: Geschwungene Formen aus hartem Beton
Foto: E.S.

Trotz ihrer geschwungenen Kubatur steht die Kirche da wie eine kantige Skulptur mitten im ruhigen Wohnviertel. Roher Beton ist das Prinzip. Der Bau wirkt hart und entschieden, will sich architektonisch nicht einfügen in seine Umgebung, und das, obwohl die meisten der Häuser und Wohnanlagen in den 50er Jahren oder fast zeitgleich entstanden sind.

St. Pius: Geschwungene Formen aus hartem Beton
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Monsignore Guido Assmann

St. Pius: Geschwungene Formen aus hartem Beton
Foto: E.S.

St. Pius ist eine der jüngsten Kirchen in Neuss und sprengt vielleicht die Grenzen dessen, was man sich damals unter einem katholischen Kirchenbau im konservativen Neuss vorgestellt hat. Dabei ist das Gebäude ein Paradebeispiel für den Stil der Zeit. „Die Kirche wird nicht jedem gefallen, die Zeitsprache ist heute eine andere. Doch sie ist immer noch eine moderne Kirche mitten unter den Menschen“, sagt Monsignore Guido Assmann, Leitender Pfarrer im Seelsorgebezirk Neuss-Mitte. „Beton war damals der modernste Baustoff, den man hatte, das passte in dieses neue Viertel, auch zur Aufbruchstimmung in der Kirche, die vom II. Vatikanischen Konzil ausging.“ St. Pius sei ortsprägend, identitätsstiftend, eine Familienkirche, die junge Leute anspreche.

Auch wenn der Betongigant auf den ersten Blick etwas Schroffes, Sachlich-Kühles und Protestantisches hat, vermittelt das Gotteshaus Geborgenheit. „Es gibt keine Ablenkung. Die Kirche ist schön und ansprechend, die direkte Nähe zur Gemeinde und zum Kreuz ist einladend“, sagt Assmann. Im vergangenen Jahr wurde das 50-jährige Gründungsfest in der Gemeinde gefeiert. Zum ersten Mal erklang da auch die neue, allerdings gebraucht gekaufte Orgel.

St. Pius und die vier weiteren Gebäuden rund um den Kirchplatz mit Pfarramt, Kindergarten, Schulreferat und Wohngruppen stehen unter Architektenschutz.

Der Grundriss, der Papst Pius X. geweihten Kirche, hat die Form eines Doppelkleeblatts. Für andere verkörpert er aber auch eine Taube oder ein Christusmonogramm, das aus den beiden, übereinander geschriebenen griechischen Buchstaben XP besteht.

Um den aus sechs Konchen bestehenden Baukörper nicht zu „stören“, hängen die Kirchenglocken hinter der Rundung der Altarraumkonche, die deshalb außen deutlich länger ist als innen.

Architekt Joachim Schürmann hatte immer Lust, sich einfache und klare Räume mit kühnen Konstruktionen zu erstreiten. Zu seinen anspruchsvollsten und teuersten Projekten gehört der nach ihm benannte Schürmann-Bau für die Abgeordneten in Bonn. Alvar Aalto und Ludwig Mies van der Rohe waren Vorbilder des heute fast 91-jährigen Diplom-Ingenieurs aus Köln.

Bevor Schürmann St. Pius in Neuss konzipierte, beschäftigte er sich mit dem Castel del Monte in Apulien, einer achteckigen Burg aus der Zeit des Stauferkaisers Friedrich II. im Südosten Italiens. Offenbar inspirierte ihn das Castel, denn Schürmanns zuvor errichteten Kirchen Christkönig in Wuppertal, St. Stephan und St. Pius in Köln entstanden über streng rechteckige Grundrisse mit kubischen Baukörpern.

Nach mehr als 50 Jahren ist der graue Riese gezeichnet von Witterungsspuren, anhaben können sie ihm nicht wirklich was. Von außen ist es eine Architektur, die nicht einfach ist, eine, die sich radikal ins Stadtbild schiebt, typisch für die Bauten des Brutalismus in der Zeit von 1955 bis 1975. Der schweizerisch-französische Architekt und Stadtplaner Le Corbusier prägte den Stil weltweit. Die Bezeichnung Brutalismus leitet sich entsprechend aus dem Baustoff ab. Sichtbeton wird im Französischen „béton brut“ genannt, der Beton ist roh, also „brut“.

Als modernes, schlichtes Gebäude mit nur wenigen Fenstern braucht die Kirche auch in ihrem Inneren keine Vergolder, kein Statuen, keine Marienbilder. Wer eine der drei schweren Türen öffnet und in die Kirche eintritt, der steht in einem hohen Raum mit einem zweifach gekrümmten Hängedach. Die hellen Zedernholzschindeln der welligen Decke bilden einen schönen Kontrast zum Sichtbeton, den roten Ziegelsteinen am Boden und den Holzbänken.

Der Altar dient der Eucharistie, dem Abendmahl. In St. Pius ist der Altar kein einfacher Tisch, er ist aus portugiesischem Marmor und macht mit seinem Zartrosa etwas raumgreifender auf sich aufmerksam.

Milchglasscheiben und nur wenige gelbe Glasfenster sorgen je nach Sonneneinfall für ein goldenes Lichtspiel im Rund des Altarraums. Je nach Lichteinfall verändert sich der Schattenwurf des Kreuzes, und taucht gleich dreifach auf der Betonwand auf. Lampen, die auch die Decke anstrahlen, sind erst nachträglich eingebaut worden, an. Sie gefallen nicht jedem, zumindest hielt sich der Begriff „Spiegeleierleuchten“ hartnäckig.

In der Altarkonche ist in der Mitte eine runde Steinplatte in den Boden eingelassen. Auf ihr steht das Taufbecken. Der Stein mit seinen Wellen symbolisiert den „Fingerabdruck Gottes“. „Es ist ein Ort der Begegnung der Gemeinde und der Getauften mit Gott“, erklärt Monsignore Guido Assmann. Am Übergang zur nördlich benachbarten Konche mit den von aus der Gemeinde geschaffenen Terrakotta-Kreuzwegtafeln hat das Tabernakel seinen Platz.

An der Ausstattung der Kirche war auch der Bruder von Joachim Schürmann beteiligt. Der Bildhauer Werner Schürmann gestaltete sowohl das schlichte Altarkreuz, als auch das Betonrelief an der äußeren Portalwand. Es soll den apokalyptischen Kampf des göttlichen Engels (Lanzenschild mit Trinitäts-Dreieck) gegen das Böse darstellen (die unregelmäßige, chaotische Formung).

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