Großer Knall erfordert Präzision

Routine im Job? Die darf es für die fünf Sprengmeister in Europas größtem Kalksteinbruch nicht geben. In diesem Beruf verbieten sich Fehler von selbst.

Großer Knall erfordert Präzision
Foto: dne

Wülfrath. Die Urgewalt entlädt sich schrittweise. Erst steigt eine Rauchwolke auf. Plötzlich zerbröselt eine 20 Meter hohe Felswand. Als mit Verzögerung die Explosion hörbar wird, ist die erste von drei Sprengungen an diesem Tag vollendet. 11 000 Tonnen Kalkstein warten auf den Abtransport. Zweimaliges Tröten bedeutet „Achtung!“ und kündigt die nächsten beiden Explosionen an; auf den höher gelegenen Sohlen zeigt sich dasselbe Bild. Zumindest für den Laien. Horst Müller sieht feine Unterschiede: „Die letzte Explosion war nicht optimal. Wahrscheinlich ist eine Lage Sand hinter den Bohrlöchern. Die hat uns viel Energie genommen.“

Großer Knall erfordert Präzision
Foto: Dirk Neubauer

Der 59-Jährige ist Sprengmeister von Beruf. Ein Mister Dynamite? Jemand, der es jeden Tag ordentlich krachen lässt? Von wegen! Da steht ein bodenständiger Mann in Gummistiefeln im Matsch, trägt Warnweste mit Funkgerät am Revers und blickt mit wachen Augen durch die Schutzbrille. „Wir sind fünf Sprengmeister hier und befinden uns täglich im Gefahrenbereich.“ Jeder Fehler wäre tödlich. „Deshalb darf keine Routine aufkommen. Das ist das Erste, was ich als angehender Sprengmeister gelernt habe.“

Vor 37 Jahren hat er hier im Steinbruch Flandersbach angefangen. Als Bohrist. Das sind die Mitarbeiter, die 13, 15, 18 Meter tiefe Löcher in den Kalkfels bohren, gerade so, wie es gebraucht wird und von den Sprengmeistern und Ingenieuren berechnet wurde. In den Löchern versenkt der Sprengmeister die explosive Mischung und deckt sie mit Steinmehl ab. Zehn Jahre lang sammelte er auf der Maschine mit dem Bohrgestänge Erfahrungen. „Das Bohrloch entscheidet zu 80 Prozent über den Erfolg einer Sprengung“, stellt er fest. Dann fragte ihn sein Chef, ob er sich eine Ausbildung zum Sprengmeister vorstellen könne. Damals hieß die Firma noch Rheinische Kalksteinwerke. Das belgische Rohstoffunternehmen Lhoist übernahm das größte Kalkwerk Europas im Jahr 1993. Horst Müller zögerte nicht. „Das war ein logischer Schritt.“ Seither freut sich seine Frau noch mehr als zuvor, wenn er abends nach Hause kommt.

Um den Befähigungsschein zum Sprengmeister machen zu dürfen, muss man mindestens 21 Jahre alt sein, ein tadelloses Führungszeugnis besitzen und bereits als Sprenghelfer gearbeitet haben. Der Respekt für den Sprengstoff ist eine Lebensversicherung. Der Humor hilft dabei, nicht zu verkrampfen: „Wissen Sie was die letzten Worte eines Sprengmeisters sind? Hallo, was ist denn das hier für ein Kabel...?“

In den Wülfrather Steinbrüchen Flandersbach und Silberberg wird jeden Werktag gesprengt. Immer um elf Uhr. Denn dann sitzen die Mitarbeiter der Tagschicht im Aufenthaltsraum beim Frühstück und laufen nicht unkontrolliert herum. „Und außerdem haben die Anwohner dann nur einmal am Tag den Krach.“ Darauf könne man sich einstellen.

Wer erstmals in den Steinbruch Flandersbach kommt, sieht ein 230 Meter tiefes Loch. Einer Treppe für Riesen gleich geht es in die Tiefe. Sohlenstufe um Sohlenstufe, jeweils 20 Meter hoch. Sehr akkurat, wie mit dem Zirkel gezogen. Da guckt Horst Müller ein wenig beleidigt: „Natürlich sprengen wir hier nicht wahllos, sondern nach exakten Vorgaben.“ Das Gelände für die nächste Sprengung wird dreidimensional gescannt. Hinzu kommen die Anforderungen der Weiterverarbeitung an die Steingröße. All die Rechenarbeit endet in zehn bis 25 neongrün markierten Steinen, die dem Bohristen vorgeben, wo entlang der Abbruchkante in regelmäßigen Abständen die Bohrlöcher gesetzt werden müssen.

Mit der benötigten Menge befüllen, verkabeln, Sicherheit herstellen, letzte Signale geben und zünden. Als Leiter der Abteilung Umweltschutz ist Uwe Stichling zuständig für den Kontakt zu den Behörden, die die Arbeit im Steinbruch engmaschig kontrollieren: „Jeder noch so kleine Fehler würde sofort unsere Arbeit hier in Frage stellen.“ Als Sprengmeister bewerben? Das wäre vergebens. „Wir suchen uns die Leute, die wir seit langen Jahren kennen“, so Müller. Seit deutscher Industriesprengstoff bei Terroranschlägen in Spanien zündete, gelten hohe Sicherheitsauflagen. Das Bundeskriminalamt war zur Unterweisung in Wülfrath. Horst Müller ist daher ein erfundener Name. Nicht einmal entfernte Familienmitglieder und Bekannte wissen, wie viel Sprengstoff der Mann seit Jahren bewegt, wie viele Felsen er pulverisiert hat. Dass er mit dem Silvesterfeuerwerk nicht viel anfangen kann, ist hingegen schon mal aufgefallen. „Wenn ich im Urlaub nach meinem Beruf gefragt werde, sagte ich: Bäcker.“

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