Eingeschlossen im Kanalschacht - das Martyrium der kleinen Kassandra

Velbert. Das Unfassbare geschah mitten in einer idyllischen Wohngegend, wo die Straßen mit schönen Altbauhäusern sich sanft über Hügel ziehen. Nur wenige hundert Meter vom Haus der Eltern entfernt, unweit der Fußgängerzone und der Wallfahrtskirche Mariendom des bergischen Städtchens Velbert-Neviges, erlebte die neunjährige Kassandra ein grauenvolles Martyrium.

Kaum hundert Meter von ihrem nachmittäglichen betreuten Spieltreff entfernt warf ein Unbekannter die Kleine in einen Kanal-Schacht und rollte den rund 30 Kilogramm schweren Deckel wieder über das Loch. Einem Spürhund, der sie nach einem stundenlangen Großeinsatz der Polizei in dem Schacht fand, verdankt Kassandra ihr Leben. In Sichtweite des Tatorts liegt eine kleine Polizeistation.

Was zuvor passiert war, ist auch zwei Tage nach der grauenvollen Tat ein Rätsel. Schwer verletzt am Kopf und stark unterkühlt war das Mädchen in der Nacht zum Dienstag gefunden worden. Auch erfahrene Ermittler sind von der Grausamkeit der Tat sichtlich erschüttert. Wann Kassandra in den Kanalschacht geworfen wurde, wie viele Stunden sie dort qualvoll ausharrte, ob sie um Hilfe rufen konnte - alles bleibt noch vage. Sie war nicht gefesselt und hatte auch ihre Kleider an. Es gebe keinen Hinweis auf ein Sexualdelikt, sagt der Leiter der Mordkommission, Wolfgang Siegmund. "Ich hoffe, sie war eine Zeitlang bewusstlos, damit sie dieses Martyrium nicht bewusst mitgemacht hat." Kassandra wurde in der Uni-Klinik Essen in ein künstliches Koma gelegt.

Kinderlachen ertönt am Mittwochmorgen aus dem Kindergarten an der Tönisheider Straße und aus der katholischen Ganztagsschule auf der anderen Straßenseite. Einen Steinwurf von Kassandras Martyriums-Ort entfernt spielen die Kinder im Garten neben einer Turnhalle. Hinter der Halle verläuft ein kleiner Trampelpfad. Zwei Kanaldeckel gibt es dort, der Täter stopfte sein hilfloses Opfer in den hinteren. Der Pfad ist abgesperrt. Ermittler des Landeskriminalamts suchen nach weiteren Spuren. Doch bis Mittwochnachmittag hatte die Polizei noch keine verwertbare DNA des Täters.

Für die Kinder ist das Verbrechen noch kaum zu verstehen, umso fassungsloser und verängstigter sind die Eltern und Betreuer. Eine Mutter hetzt vorbei. "So lange der Täter nicht gefasst ist, hole ich meine achtjährige Tochter ab", sagte die 39-Jährige. Auch die 43- jährige Gina Sinhöfer holt ihren Sohn aus der Schule und die fünfjährige Tochter aus dem Kindergarten ab. "Ich habe ihnen eingeschärft, dass sie auf jeden Fall in ihrer Gruppe bleiben sollen", sagt sie.

Kassandra hatte am Montagnachmittag wie so oft den offenen Spieltreff in der ehemaligen Volksschule an der Tönisheider Straße besucht. Sie war alleine mit drei Betreuern in dem Hort und verließ ihn wohl gegen 18 Uhr. Die Polizei geht inzwischen davon aus, dass das Mädchen direkt nach Verlassen des Gebäudes auf den Täter traf und hinter die angrenzende Turnhalle gezerrt wurde. Der Spieltreff gehört nicht zu der katholischen offenen Ganztagsschule, die ebenfalls Räume in dem mehrstöckigen Altbau nutzt. Zum offenen "Treff 51" könnten die Kinder kommen und gehen, wann sie wollten, sagt die Schulleiterin Britta Hitzbleck. Dies sei so üblich.

In der Schule ist das anders. "Wir lassen hier kein Kind mehr allein gehen", sagt Hitzbleck. Auch nicht die älteren Schulkinder. Kein Schüler werde mehr ohne Begleitung die hundert Meter von der Grundschule über die Straße zu dem Betreuungsort zurücklegen.

Hitzbleck hat am Vorabend mit einigen Schülern Kerzen im Mariendom für Kassandra angezündet. Mit Gesprächen versucht sie den Kindern zu helfen, das Unfassbare zu bewältigen. Für Ulrich Koch von der Polizei Mettmann ist das Verbrechen an Kassandra "so unerklärlich vom Motiv und den denkbaren Umständen, dass ich gar keine vergleichbare Tat kenne". Und Ermittler Siegmund sagt: "Wir haben die Hoffnung, dass Kassandra wach wird und uns etwas sagen kann."

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