Krefeld Wie an der Gesamtschule Uerdingen Schüler zu Superhelden werden

Uerdingen · Ein Hochschulabsolvent unterstützt die Jugendlichen vor dem Abschluss und zum Start ins Berufsleben.

 Alexander Kerber arbeitet für das Projekt „Teach First“ an der Gesamtschule Uerdingen.

Alexander Kerber arbeitet für das Projekt „Teach First“ an der Gesamtschule Uerdingen.

Foto: Andreas Bischof

„Duden-Race“ schreibt Alexander Kerber mit Kreide an die Tafel des Raums 217 der Gesamtschule Uerdingen. „Unsere Klasse ist ein super Team“, steht in bunten Buchstaben an einer Wand. Noch ist es still. In wenigen Minuten wird sich das ändern. Nach und nach kommen die Schüler des neunten Jahrgangs von der Pause zum Unterricht. Einige gehen direkt auf Kerber zu, fragen nach seiner Japanisch-AG. Die ist nur ein Projekt des 32-Jährigen. Ein anderes ist ein Superhelden-Team, doch dazu später mehr. An diesem Morgen übernimmt er den Einstieg in das aktuelle Thema des Grundkurses Deutsch: Es soll um eine Kurzgeschichte des Schriftstellers Wolfgang Borchert gehen, „Nachts schlafen die Ratten doch“, ein Beispiel für Trümmerliteratur nach dem Zweiten Weltkrieg. Doch Kerbers Einstieg ist spielerisch, bezieht sich zunächst nicht auf das eher düstere Thema. Nach wenigen Minuten ist klar, mit seinem Duden-Wettbewerb reißt er in die Gruppe mit.

Der 32-Jährige ist ein
sogenannter Gefährte der Schüler

Dabei ist der 32-Jährige gar kein Lehrer, auch kein angehender, obwohl er auch als Referendar durchgehen könnte. Seit Ende August ist er als sogenannter „Fellow“ (Gefährte) an der Gesamtschule Uerdingen im Einsatz. Um Organisation, Vermittlung und Vorbereitung kümmert sich die gemeinnützige Organisation „Teach First“ (siehe auch Kasten). Sie bringt Schulen und Hochschulabsolventen wie Alexander Kerber zusammen. Fellows sollen Schüler vor allem dann unterstützen, wenn es darauf ankommt. Kurz vor dem Abschluss, beim Übergang zur Oberstufe oder auch bei Fragen zum Start ins Berufsleben oder ins Studium.

Alexander Kerber hat zuletzt in Düsseldorf Philosophie und Englisch studiert und einen Master-Abschluss in der Tasche. Seit Oktober wohnt er in Krefeld. Erst wollte er sich weiter an der Uni bilden, eine Promotion wäre denkbar gewesen. Dann habe er sich aber nach Praxis gesehnt. Über die Möglichkeit, als Fellow an einer Schule zu helfen, habe er über den „Flurfunk“ seiner WG erfahren.

Nun wird er von jugendlichen Schülern auch mal „bester Lehrer der Welt genannt“. Eine Reaktion auf die Ankündigung, dass er eine Japanisch-AG anbieten möchte. Die Begeisterung rühre daher, dass viele Schüler über Streaming-Anbieter wie Netflix Animes ansehen. Ein anderer Schüler habe angekündigt, extra dafür zur Schule zu kommen.

„So cool war meine Gesamt-
schule nicht“, habe Kerber gedacht, als ihn Schulleiterin Brigitte Munsch anfangs durch die Räume der Schule geführt habe — 3D-Drucker, Beamer, Smartboard — die Ausstattung habe ihn beeindruckt. Kerber habe als Fellow eine Art Sonderstellung — ein Zwischending zwischen Sozialpädagoge und Lehrer, so die Schulleiterin. Dabei geht es nicht darum, den Unterricht zu gestalten, sondern zu unterstützen, erklärt Raya Bolduan, Regionalreferentin bei Teach First. Fellows würden keine Noten geben, sondern unterstützen. Als Vorbereitung habe Kerber einen Monat lang von morgens bis abends an einem Crash-Kurs teilgenommen. Dabei sei es unter anderem um Unterrichtsziele, „Classroom-Management“ oder Spiele mit Gruppendynamik gegangen.

Letzteres scheint ihn überzeugt zu haben. Sein Einstieg in die Unterrichtstunde zum Thema Kurzgeschichte quillt fast über vor Gruppendynamik. Mehrere Teams werden gebildet, Duden verteilt. Kerber schreibt Wörter aus der Anfangs genannten Kurzgeschichte an die Tafel: Das erste ist „dösen“. Wer am schnellsten die passende Definition im Duden findet und sich meldet, bekommt Punkte. Es kommt auf Teamplay und Schnelligkeit an. Schnell entwickelt sich ein Wettkampf, der einen großen Teil des Kurses mitreißt – im Wettbewerbsmodus scheint der Schulalltag in den Hintergrund zu rücken, ein Foto-Finish lässt Kerber per Schnick-Schnack-Schnuck klären. Lockerheit, die ansteckt. Am Ende gibt es ein Stechen in einem Herzschlag-Finale. Danach übergibt Kerber an eine Lehrerin.

Trotzdem es so wirken könnte, Kerbers Schwerpunkt als Fellow liegt nicht bei rasanten Unterrichtseinstiegen. Bald wird Kerber sogenannten „Fokus-Unterricht“ geben. Da der Begriff ihm aber zu technisch vorkomme, „rekrutiere“ Kerber lieber Schüler für ein „Superhelden-Team“. Je nach Bedarf kann es dabei um Nachbereitung des Unterrichts, selbständiges Lernen oder um Überzeugungsarbeit gehen. Dabei gehe es auf der einen Seite in Richtung Nachhilfe oder den entscheidenden Schubser, um Schülern beim Erreichen von Erweiterungs-Kursen zu helfen. Auf der anderen Seite gehe es aber auch um Themen, die nichts mit Noten zu tun haben — etwa sich zuzutrauen, sich einer kniffligen Aufgabe oder Entscheidung länger zu widmen.

Ein Beispiel: Bei einer offenen Sprechstunde zu Praktikumsheften habe Kerber ein Schüler gesagt, dass er etwas aus sich machen wolle, ob man nicht irgendetwas mit Game-Design studieren könne.

Laptop und Beamer an, Kerber habe aus dem Stegreif zusammen mit dem Schüler nach Fachhochschulen geschaut. „Mir geht es um die Schüler“, sagt Kerber. Und was ist mit ihm? Was hat ihn davon abgehalten, an einer Hochschul-Karriere zu basteln? Im Philosophiestudium habe er irgendwann gemerkt, dass er gerne etwas abseits von theoretischen Arbeiten und Überlegungen machen möchte. Etwas sinnvolles machen — das müsse eben nicht eine Doktorarbeit sein, „die benotet wird und im Keller verstaubt“.

Pläne für die Zeit nach seiner Tätigkeit an der Gesamtschule Uerdingen habe er bewusst noch nicht gemacht. Von langfristigem Planungen habe er Abstand genommen. Zunächst muss sich der 32-Jährige sowieso auf die nahe Zukunft konzentrieren — schließlich gilt es ein Superhelden-Team zu bilden.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort