Kinderschutzbund Wenn das Kinderzimmer zum Tatort wird

Seit 25 Jahren hilft die Beratungsstelle des Kinderschutzbundes Opfern von Gewalt und Missbrauch — und leistet Präventionsarbeit.

Kinderschutzbund: Wenn das Kinderzimmer zum Tatort wird
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Krefeld. Es sind Zahlen, die fassungslos und wütend machen: „Jedes achte Kind erduldet einen sexuellen Übergriff in seiner Kindheit“, sagt Birgit August, Vorsitzende des Kinderschutzbundes Krefeld. Die offiziellen Fallzahlen sind bedeutend niedriger; die Dunkelziffer ist hoch. „Weil nämlich Menschen davon betroffen sind, die noch sehr jung, sehr ängstlich, sehr schnell einzuschüchtern sind. Die nicht wissen, wie, ob und mit wem sie darüber sprechen sollen“, ergänzt Geschäftsführer Dietmar Siegert. Opfer sind Kinder aus allen Schichten der Gesellschaft, Mädchen wie Jungen.

Sozialpädagoge Siegert ist Mann der ersten Stunde. Seit 25 Jahren leitet er die Krefelder Beratungsstelle „Wendepunkt“. Heute führen er und seine Kollegin rund 300 Beratungsgespräche in einem Jahr — in Einzelgesprächen vor Ort, telefonisch, in Schulen und Kindergärten. Es geht um häusliche Gewalt, um sexuellen Missbrauch. Tatort sei oft das eigene Kinderzimmer, der Täter in den meisten Fällen „der nette Nachbar, der Onkel, der eigene Bruder oder Vater“. Vor allem aber geht es um das Kindeswohl, um Präventionsarbeit, darum, dass das Schlimmste gar nicht passiert.

„Wir verstehen uns als Lotsen, die hilfreich an der Seite der Familien stehen“, fasst Birgit August die Zielsetzung des Kinderschutzbundes zusammen. Dafür setzten sich heute 130 Mitarbeiter und 100 Ehrenamtler unter anderem in der sozialpädagogischen Familienhilfe, in der Fachstelle Kindertagespflege, in der Schreibabysprechstunde, in der Betreuung im offenen Ganztag oder in der Beratungsstelle ein.

„Es ist wichtig, mit den Eltern ins Gespräch zu kommen“, weiß Dietmar Siegert. „Oft trauen sich Eltern nicht zuzugeben, dass sie überfordert sind, aus Angst, dass ihnen ihre Kinder weggenommen werden. Ich begleite sie dann etwa zum Jugendamt, um Hilfe zu beantragen.“ Als seine Aufgabe verstehe er es, Ängste zu nehmen, „Brücken zu bauen“.

Seit 25 Jahren hat Siegert mit bewegenden Einzelschicksalen zu tun, beobachtet aber einen Trend: Sprüche wie „Ein Klaps auf den Hintern hat noch keinem geschadet“, mit denen Eltern früher häufig Schläge hätten rechtfertigen wollen, höre er kaum noch. Häusliche Gewalt passiere immer noch, heimlich, aber: „Ich glaube, dass das Bewusstsein, gerade was das Thema Gewalt in der Erziehung angeht, sich verändert hat.“ Der Fall der Mutter aus Hüls, die ihre drei Kinder aus dem Fenster gestoßen haben soll, sei „ein schrecklicher Einzelfall, der nicht unbedingt zeigt, dass unsere Gesellschaft verrohter ist als sie es vor einigen Jahren war“.

Ein wachsendes Problem sei heute vielmehr das, was Fachleute „fehlende Elternkompetenz“ nennen. „Wer selbst keine guten Elternvorbilder hatte, ist oft selbst bei der Erziehung überfordert“, erklärt der Sozialpädagoge. In den Beratungsgesprächen treffe er auf „Eltern, die keine Grenzen setzen und die besten Freunde ihres Kindes sein wollen — das kann nicht gut gehen. Solche Kinder zeigen häufig die selben Auffälligkeiten wie Kinder, die häusliche Gewalt erfahren“: Aggressivität, mangelndes Selbstbewusstsein, Grenzüberschreitungen, Orientierungslosigkeit. „Sie geraten in Konflikte mit anderen Kindern, die sie lösen wollen, indem die Fäuste fliegen“, beschreibt Siegert.

Häufig kämen die Eltern dieser Kinder aus „bildungsfernem Milieu“, auffällig sei auch: „Die Zahl der Eltern, die an psychischen Erkrankungen leiden, ist signifikant gestiegen.“ Eine Entwicklung, die der Fachmann auch mit einem offenerem Umgang mit Diagnosen wie Depression oder Borderline erklärt. Hier gilt: Je eher betroffene Familien Hilfe erfahren, desto besser, denn: „Für ältere Kinder ist es viel schwieriger, Entwicklungsrückstände aufzuholen“, betont Birgit August. Hier setzt etwa die Arbeit der Familiengruppe an, die Eltern mit Kindern unter drei Jahren längerfristig unterstützt, wenn die persönliche Überforderung in Mangel- oder Fehlversorgung der Eltern münden kann. Ehrenamtliche „Welcome-Engel“ unterstützen Familien nach der Geburt im Auftrag des Kinderschutzbundes etwa bei Arztbesuchen, auch indem sie Eltern entlasten, „Zeit zum Verschnaufen geben“.

Birgit August: „Gemeinsam können wir die Zukunft der Kinder gestalten. Auch wenn es Zufall ist, in welche Familie ein Kind geboren wird, darf es nicht dem Zufall überlassen bleiben, was aus ihm wird.“

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