Sayed Habibi: „Ein Mensch ohne Hoffnung ist kein Mensch“ Einer, der ankommen möchte

Krefeld · In Krefeld hat Sayed Habibi ein Restaurant eröffnet, geschlossen, eröffnet und wieder geschlossen. Trotz Corona und weiteren Schicksalsschlägen macht er weiter.

Vor zehn Jahren flüchtete Sayed Habibi aus Afghanistan nach Deutschland.

Vor zehn Jahren flüchtete Sayed Habibi aus Afghanistan nach Deutschland.

Foto: Endermann, Andreas

Sayed Habibi sorgt sich davor, dass der Abend hereinbricht. In der Firma kann er sich auf seine Arbeit konzentrieren, darauf, diesen Kasten zusammenzubauen, der in Bussen das Coronavirus in der Luft vernichten soll. Wenn es gut läuft, braucht er eine Stunde pro Gerät. Handarbeit. Ein bisschen wie Lego zusammenbauen, nur komplizierter. Doch wenn er Feierabend hat, fangen seine Gedanken an zu kreisen. Dann sitzt er zu Hause, die Rücken- und Herzschmerzen kehren zurück, und er kann nicht mehr verdrängen, was ihm noch zu seinem Glück fehlt. „Dann bin ich allein“, sagt er. Was sein Sohn wohl gerade macht?

Wir treffen uns an einem Januarabend in einem Café in der Krefelder Innenstadt. Habibi, 32, sitzt dort bereits vor einem Teller mit einer großen Waffel, darauf Nusseis und Sahne. Nichts davon hat er angerührt. Zunächst bietet er mir den Teller an, obwohl er nach eigener Aussage heute noch nichts gegessen hat. Mehrfach muss ich ihn dazu auffordern, doch bitte anzufangen.

In der WZ habe ich bereits zweimal über Sayed Habibi berichtet, weil er versucht hatte, ein afghanisches Restaurant in Krefeld zu etablieren. Leider ohne dauerhaften Erfolg. Nun ist er 32. Er hat sich einen Vollbart wachsen lassen, aber sein Gesicht wirkt noch immer weich. Obwohl er einen geschafften Eindruck macht, ist da auch immer etwas Kindliches, Fröhliches in seinem Blick, etwas, das sich trotz aller Probleme offenbar nicht zerstören lässt.

Es ist nicht so, dass ihm das Leben bisher zu wenig Steine in den Weg gelegt hätte. Vor fast zehn Jahren flüchtete Habibi aus Afghanistan nach Deutschland. Aus Gründen, über die ich hier nicht schreiben darf, wurde er in seiner Heimat fast abgestochen. Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus verließ er das Land, sein Leben war bedroht. Über seine Flucht erzählt er mir beim ersten Treffen, dass man Hunde auf ihn gehetzt habe. Er sei mehrfach im Gefängnis gewesen. Dann erreichte er Deutschland. In Afghanistan hatte er Kinderpsychologie studiert, sagte er mir, aber das sei ihm hier nicht anerkannt worden. Also musste er bei Null anfangen. Machte Praktika bei Banken und im Altenheim, begann eine Ausbildung als Elektroniker bei der Rheinbahn in Düsseldorf.

Doch da war auch immer eine Stimme in ihm, die mehr verlangte. Der eine solide Ausbildung nicht reichte. Vor drei Jahren eröffnete Habibi das „Kabul Haus“ in Krefeld, das erste Restaurant der Gegend, das afghanische Küche anbot. Seine einzige Erfahrung in der Gastronomie hatte darin bestanden, hinter der Theke im „Oberbayern“ in der Düsseldorfer Altstadt zu arbeiten. Aber in Afghanistan hatte er gelernt, viel selbst zu machen. Er wollte keine weitere Pizzeria eröffnen, keinen weitere Dönerladen, sondern den Gästen auf dem Teller sein Heimatland näherbringen.

Ein Onkel lieh ihm Geld. In der Küche standen er und seine Familie, Mutter und Geschwister. Seine Tage begannen um vier Uhr. Erst Ausbildung, dann Restaurant. Damals konnte er von den Speisen schwärmen, als habe er sie selbst erfunden. Von Kabuli Palau, einem in Afghanistan berühmten Reisgericht, für das der Reis stundenlang quellen muss. Von den Teigtaschen Mantu. Von Nargis Kebap, einer Frikadelle mit eingebackenem Ei.

 Doch Corona stellte sich gegen ihn. In Zeiten der Lockdowns lieferte Habibi mit dem Rad aus, weil er damals noch keinen Führerschein hatte. Aber die Menschen waren mit der afghanischen Küche nicht gerade vertraut. Auch wenn viele Leute von weither anreisten, um bei ihm zu essen, so berichtet er, waren es doch nicht genug. Es war nicht die Zeit für erfolgreiche Experimente auf dem Teller. Dabei hätte, wer mit türkischem oder arabischem Essen etwas anfangen kann, auch hier seine Freude gehabt.

Während Habibi mit dem Restaurant Verlust machte, musste er in die Abschlussprüfung als Elektroniker. Hoch war der Druck, den er sich machte. Was, wenn er nicht nur mit dem Restaurant scheiterte, sondern auch mit der Ausbildung? Würde er wie in Afghanistan noch mal alles verlieren? Dann hätte er mal wieder nichts schwarz auf weiß. Er besaß ja nicht mal eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. Während der schriftlichen Prüfung spürte er plötzlich Schmerzen in der Brust. Die Luft blieb ihm weg.

Er brach ab, fuhr nach Hause, ging zum Arzt. Dem war schnell klar: Herzinfarkt. Mit dem Krankenwagen wurde Habibi ins Krankenhaus gebracht, erlitt dort seinen zweiten Herzinfarkt. Die Ärzte setzten ihm mehrere Stents ein. Als er wieder einigermaßen auf den Beinen war, machte er mit dem Restaurant weiter, musste dann aber schließen.

Zuletzt haben wir uns im Sommer 2021 gesehen, knapp ein halbes Jahr nach seinen Herzinfarkten. Kurz danach versuchte er es an selber Stelle ein zweites Mal mit dem Restaurant. „Ich habe Wünsche gehabt für mich, meine Kinder, meine Frau.“ Außerdem hätten sich viele Gäste gemeldet, die gerne wieder kommen wollten. Doch noch immer hielt Corona viele Menschen davon ab, ein Restaurant zu besuchen. Habibi machte das „Kabul Haus“ ein zweites Mal dicht. Noch heute zahlt er die Schulden bei einem Onkel in London ab.

Als ob das nicht gereicht hätte, fiel er ein zweites Mal durch die Elektroniker-Prüfung. Er sagt, er hatte kaum Zeit sich vorzubereiten, weil er noch immer damit beschäftigt war, gesund zu werden. Danach lief der Vertrag bei der Rheinbahn aus. Habibi stand plötzlich ohne Ausbildung und ohne Betrieb da. Und dann passierte das, von dem er nicht möchte, dass es an dieser Stelle näher beschrieben wird. Der Grund, warum er abends häufig allein ist. Der Grund, warum er im Gespräch weint, als eine Familie am Café vorbeiläuft. Private Probleme.

Als Sayed also mal wieder ganz unten war, machte er das, was er immer macht, wenn sich alles gegen ihn verschworen zu haben scheint: Weiter. „Ich höre nicht auf“, sagt er. Schon für die Führerscheinprüfung hatte er vier Anläufe gebraucht. Er suchte sich einen Job, ging in die Zeitarbeit als Maschinenführer. Zwar hatte er keinen Ausbildungsbetrieb mehr, aber die Prüfung durfte er ein drittes Mal versuchen. Danach allerdings wäre eine Wiederholung ausgeschlossen. Im vergangenen Jahr bestand er schließlich. Seitdem ist er Elektroniker für Betriebstechnik. Eine Tatsache, die ihm die deutsche Bürokratie diesmal anerkennen muss. Über die Note möchte er nicht sprechen. Hauptsache geschafft.

Seit vier Monaten hat Habibi eine feste Stelle in einem Betrieb. Schon am zweiten Tag sei er gefragt worden: Willst du bei uns bleiben? Der Chef habe gesehen, wie er sich engagiert habe. Nicht aufs Handy geschaut, sondern gearbeitet. „Die schlauen Leute suchen die Stärken der Mitarbeiter, nicht ihre Schwächen“, sagt Habibi. Es ist ein Job, der sein Leben finanziert, aber auch Therapie ist. „Du musst etwas haben, was dich beschäftigt.“ Wenn er keine Ablenkung hätte, würde ihn die Situation auffressen. Seine Tage bestehen aus Fitnessstudio, Arbeiten und Schlafen.

Doch da sind nicht nur die Probleme im Privaten und mit der Gesundheit. Er hat keine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. Er wartet noch immer auf den deutschen Pass. Habibi sagt, er habe alle Bedingungen erfüllt. Wohne seit fast zehn Jahren in Deutschland, habe den Sprachtest bestanden und den Einbürgerungstest, nie Sozialhilfe beantragt. Auf seinem Handy zeigt er mir eine Liste, die aufführt, wo er überall gearbeitet hat. Auf die Ausländerbehörde in Krefeld ist er nicht gut zu sprechen. Er hat sich einen Anwalt genommen. „Gesetzlich muss ich schon lange Deutscher sein“, sagt er. „Mein Land, meine Familie ist hier.“

Warum steckt so jemand nicht auf? Einer, der immer wieder zurückgeworfen wird. Der immer noch nicht dort angekommen ist, wo er hin will. „Ein Mensch ohne Hoffnung ist kein Mensch“, sagt er, als würde das alles erklären. Hoffnung auf das Familienglück vor allem. Und da ist auch noch sein Gott. Aber wo soll denn dieser Gott sein?, frage ich ihn, den gläubigen Moslem. Lässt er dich nicht ständig im Stich? Nein, sagt er. Neulich habe er einen Autounfall gehabt und sei mit einem Lkw zusammengestoßen. Passiert ist ihm nichts. Da habe Gott ihn beschützt, sagt Habibi.

Die Frage ist bloß, ob seine Haltung nicht eine viel zu große Last ist für einen Menschen nach zwei Herzinfarkten. Diese Haltung treibt ihn voran, aber Habibi nimmt damit auch alle Verantwortung auf sich, auch die für das Leben anderer Menschen. Das traditionelle Bild vom männlichen Versorger, das unabhängig vom kulturellen Hintergrund noch vielerorts immer gilt, schränke eben nicht nur Frauen, sondern auch Männer ein. Habibi hat eine Menge erreicht angesichts der Bedingungen, was ihm aber selbst nicht so ganz klar zu sein scheint. Er versucht, eine Art American Dream zu verwirklichen. Wenn man etwas will, dann schafft man es auch. Er sagt: „Wollen ist deine Macht.“ Aber es ist eine Macht, die nicht alle Grenzen überwinden kann, vor allem nicht die, die andere setzen oder die Umstände.

Er könne sich vorstellen, das Restaurant wiederzueröffnen, sagt er. Ein drittes Mal. „So viele Menschen lieben mich“, sagt er. „Jeden zweiten Tag bekomme ich einen Anruf.“ Er brauche aber jemanden, der investiert. Als er das Café verlässt, bemerke ich, wie breit sein Kreuz geworden ist. Er geht ein bisschen wie ein Bodybuilder. Als wappne er sich im Fitnessstudio gegen die nächsten Einschläge.

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