Interview „Wir müssen auf die Wälle, wir müssen in die Fußgängerzone“

Krefeld · Thomas Grünewald, Präsident der Hochschule Niederrhein, ist seit 100 Tagen im Amt. Im WZ-Interview spricht er über das Wachstumspotential der Hochschule und die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf den Hochschulalltag.

 Thomas Grünewald, Präsident der Hochschule Niederrhein: „Gehen wir raus rund zeigen wir uns.“ 

Thomas Grünewald, Präsident der Hochschule Niederrhein: „Gehen wir raus rund zeigen wir uns.“ 

Foto: Andreas Bischof

Herr Grünewald, sie sind am Dienstag 100 Tage im Amt. Welche Schwerpunkte wollen sie setzen?

Grünewald: Das Präsidium hat zwar diese Monate unter den Sonderbedingungen verbracht, aber wir haben das angepackt, was wir uns vorgenommen haben. Wir arbeiten an einem Strategieplan für die nächsten fünf Jahre, einem Hochschulentwicklungsplan, zu dem uns das Gesetz verpflichtet. Er soll Anfang kommenden Jahres vorliegen.

Welche Richtung werden Sie einschlagen?

Grünewald: Im Leistungsbereich Lehre und Studium haben wir es mit zwei großen Entwicklungen zu tun: Digitalisierung und Demographie. Die Hochschule hat in den vergangenen zehn Jahren ein beachtliches Wachstum erzielt. Es geht jetzt darum, dass wir nicht schrumpfen, weil unsere Finanzierung auch an quantitative Parameter geknüpft ist. Wir müssen überlegen, wie und wo wir die Studierenden der Zukunft gewinnen und mit was. Der Bereich Gesundheit ist ein Megatrend, dem wir seit jetzt einem Jahrzehnt dadurch entsprochen haben, dass wir einen eigenen Fachbereich Gesundheitswesen aufgebaut haben. Dieser Fachbereich hat inzwischen mehr als 1000 Studierende gewonnen, ist aber noch nicht am Ende seiner Wachstumsmöglichkeiten angekommen.

Was planen Sie im Fachbereich Gesundheitswesen?

Grünewald: Wir starten mit der akademischen Ausbildung von Hebammen im Winter 2021/2022. Wir haben jetzt die ersten Professuren ausgeschrieben, aber noch nicht gewonnen. Das wird ein harter Wettbewerb werden, denn es gibt in Deutschland keine Tradition an akademischer Ausbildung von Hebammen. Da schauen wir also besonders aufs Ausland, vor allem in die Niederlande, von denen wir hinsichtlich der akademischen Ausbildung lernen können. Wir sind zuversichtlich, mit Krefeld da einen richtig guten Standort zu haben.

Haben sie noch ausreichend Fläche, um zu wachsen?

Grünewald: Wir haben derzeit Bauvorhaben. Als nächstes ist eine Erweiterung des Fachbereiches Chemie am Campus Krefeld West geplant. Wir werden da im großen Stil neu bauen. Und auf den Flächen des Campus Krefeld Süd sind wir in der Lage, noch etwas zu expandieren.

Welche Ziele verfolgen Sie in der Forschung?

Grünewald: Unsere beständige Herausforderung ist es, Strukturwandel zu gestalten. Wir haben als Anrainer des Rheinischen Reviers noch einmal ein spezielles Strukturwandels-Thema, nämlich den politisch beschlossenen Kohleausstieg und damit verbundene Wandlungsprozesse im Rheinischen Revier, die nur gelingen können, wenn sie mit wissensbasierten Lösungen arbeiten. Neue Arbeit, neue ökonomische Strukturen entstehen nur durch Innovation. Innovation entsteht da, wo Wissenschaft und Wirtschaft symbiotisch zusammenarbeiten. Wir haben die Chance als Hochschule einen Beitrag zu leisten, dass er planvoll strategisch angelegt, gelingen kann. Das ist im Bereich Forschung und Transfer für uns das wichtigste Thema mindestens der nächsten fünf Jahre.

Welche Themen spielen noch eine Rolle?

Grünewald: Die Hochschule ist auf dem Weg, internationaler zu werden, d.h. Studierende aus dem Ausland zu gewinnen. Und wir müssen uns die Frage stellen: Wo agieren denn unsere Studierenden, auch die aus der Region, wenn sie ihre Ausbildung abgeschlossen haben? Fast ausschließlich in Unternehmen, die globale Bezüge haben. Wenn wir unseren Studierenden keine internationale Kompetenz mitgeben, dann fehlt etwas. Dazu kümmern wir uns um das lebenslange Lernen. Alle Studierenden, die ins Arbeitsleben starten, werden schnell feststellen, dass sie sich weiterbilden müssen. Da sind wir als Hochschule gefordert, ein Angebot zu machen. Weiterbildung wird in Zukunft für uns einen noch größeren Stellenwert einnehmen.

Wie arbeitet die Hochschule in Corona-Zeiten?

Grünewald: Sie arbeitet, gut, intensiv und anders. Anders heißt, fast alle Beschäftigten sind zuhause, die Studierenden sind zuhause. Homeoffice und Videokonferenz sind die Zauberworte unseres neuen Alltags. Erstes Zwischenfazit nach drei Monaten Corona: Kein Studierender wird das Sommersemester verlieren. Alle haben die Möglichkeit, die Prüfungen zu absolvieren, die sie brauchen. Das hat die Hochschule geschafft, das haben tausend gute Seelen geschafft im wissenschaftlichen und technischen Bereich. Das hat mir als Neuankömmling gezeigt, wie die Hochschule Niederrhein eine Krise anpackt. Es gibt Leute bei uns, die nahezu rund um die Uhr arbeiten mussten etwa bei den IT-Services, um digitale Lehre in diesem Ausmaß möglich zu machen. Es ist eine großartige Familie, diese Hochschule Niederrhein.

Fehlen die sozialen Kontakte?

Grünewald: Das präsente Leben auf dem Campus fehlt mir sehr. Wir sind eine Präsenzhochschule und wir wollen auch eine bleiben. Wir werden natürlich das, was wir jetzt über den digitalen Lernbetrieb erfahren haben, nicht vergessen. Wir werden es auswerten und nutzen für die Zukunft, aber wir werden keine Fernhochschule. Wenn sie Studenten ausbilden als Hochschule, dann haben sie auch den Auftrag, sie zu bilden. Bilden bedeutet auch, jenseits der Fachlichkeit mündige, autonome Akteure hervorzubringen. Beide Komponenten, Bildung und Ausbildung benötigen direkte soziale Interaktion. Dass wir diese nun im Rahmen der Pandemie in den virtuellen Raum verschoben haben, ist für eine Zeit machbar, kann aber in Hinblick auf unsere Qualitätsansprüche nur ein Hilfsmittel sein. Daher werden wir alles tun, um unsere Mission als Präsenzhochschule wieder erfüllen zu können. Aber wir werden den Anteil des digital unterstützten Lernens ganz sicher ausweiten und auch qualitativ besser und anders machen können, weil wir jetzt gezwungenermaßen diesen riesengroßen Feldversuch haben, der ins Wintersemester hinein fortwirken wird.

Sie erwarten nicht, dass es im Wintersemester einen Normalbetrieb geben kann?

Grünewald: Nein, das wäre nicht seriös, das jetzt zu sagen. Woher sollen wir diese Zuversicht nehmen? Wir haben alle gelernt, durch die Pandemie durch sind wir entweder, wenn ein Impfstoff gefunden und die Mehrzahl der Bevölkerung geimpft ist, oder wenn Herdenimmunität eingetreten ist. Da wir uns bewusst entschieden haben, die Ausbreitung der Pandemie zu verlangsamen, werden wir ins nächste Jahr hinein mit diesen Bedingungen umgehen müssen.

Wie studiert ein Student derzeit bei Ihnen?

Grünewald: Die Vermittlung des Wissens erfolgt über digitale Medien. Das geht über die digitale Lehr- und Lernplattform Moodle, Chats, Videokonferenzen, aber auch mit Podcasts oder Videosequenzen, die Professoren aufnehmen. Manchmal spielt auch das Telefon noch eine Rolle.

Die Corona-Pandemie gilt auch als ein Beschleuniger für die Digitalisierung.

Grünewald: Die qualitative Entwicklung der Digitalisierung in der Lehre ist fast noch wichtiger als die Bereitstellung der Technologie. Daraus wird in der Hochschule ein Diskurs über gute Lehre. Der ist lebenswichtig und im Augenblick sehr beflügelnd, weil er, getriggert durch Corona, mit besonderer Intensität geführt wird.

Sie haben beschrieben, dass die Hochschule um Studenten werben muss. Im Alltag findet die Hochschule nicht so sichtbar statt.

Grünewald: Das ist ein ganz wichtiger Punkt, der heute viel stärker in Angriff genommen wird, als man das früher getan hat. Wir können nicht warten, bis die Leute zu uns kommen. Wir müssen rausgehen, aktiv werden und die Stadt Krefeld daran erinnern, dass sie eine Hochschule hat, und dass diese Hochschule ein Teil der Zukunft dieser Stadt ist. Wir müssen aber auch der Stadtgesellschaft Angebote machen. Das ist eine Mission, die die Hochschule gegenüber der Stadtgesellschaft in Krefeld und in Mönchengladbach hat. Gehen wir raus und zeigen wir uns.

Wie kann das konkret aussehen?

Grünewald: Am Ende braucht es Begegnungsangebote und -orte für Menschen, die hier leben, aber nicht täglich mit der Hochschule befasst sind. Unsere beiden Standorte in Krefeld liegen nicht wirklich zentral. Wir müssen auf die Wälle, wir müssen in die Fußgängerzone. Ich habe dazu bereits mit der Stadtspitze gesprochen. Es gibt Ansätze und Ideen, aber das muss man langsam aufbauen. Man muss das ein oder andere Format ausprobieren und nicht alles wird funktionieren. Mir schwebt ein Begegnungsort vor, an dem wir dauerhaft wahrgenommen werden, etwa ein Juwel wie das Stadtbad an der Neusser Straße.

Braucht es auch mehr attraktive Angebote in der Stadt, um Studenten einzuwerben?

Grünewald: Wenn du willst, dass die Leute herkommen, dann musst du gemischte Angebote machen. Es braucht Infrastruktur und Atmosphäre. Nichts ist für kreatives Arbeiten inspirierender als eine schöne Umgebung. Eine Mischung aus Kultur, Gastronomie und Freizeit.

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