Krefeld Mobbing: Wunden, die ein Pflaster nicht heilt

Mobbing ist ein Machtspiel, das Täter zur Selbstbestätigung brauchen, glaubt Thomas Aigner. Der Sozialarbeiter geht mit seinem Team dahin, wo es immer Thema ist: an Krefelds Schulen.

Krefeld: Mobbing: Wunden, die ein Pflaster nicht heilt
Foto: Andreas Bischof

Krefeld. Hannah hat sich verändert. Sie ist stiller geworden, im Unterricht meldet sie sich nicht mehr — auch einigen Lehrern ist das schon aufgefallen. Ihre Noten werden schlechter, dabei ist Hannah eine gute Schülerin. Auch zuhause zieht sich die 15-Jährige zurück. Früher hat sie viel mit Freunden gemacht, jetzt verbringt Hannah die meiste Zeit auf ihrem Zimmer. Allein. Mit ihren Eltern spricht sie nicht, die machen sich große Sorgen um ihre Tochter.

Hannah ist keine reale Person, aber einer Hannah ist wohl jeder Lehrer oder Schüler schon einmal in seinem Leben begegnet. Hannah wird an ihrer Schule gemobbt. Auf dem Schulklo gibt es hässliche Schmierereien, die sie beleidigen, am Nachmittag geht der Terror in den Sozialen Netzwerken weiter. Offensichtlich ist es trotzdem nicht. Und gerade deshalb funktioniert Mobbing — sagt Thomas Aigner, Leiter des Psychologischen Dienstes in Krefeld. Mit seinen Kollegen kümmert er sich um hilfesuchende Schüler und Eltern — und darum, dass Mobbing nicht unsichtbar bleibt.

Herr Aigner, der Psychologische Dienst berät Eltern in Erziehungsfragen, bietet Unterstützung für Schüler mit Lese-Rechtschreib-Schwäche und Schwierigkeiten beim Rechnen, hilft bei Krisen in der Schule. Welche Rolle spielt Mobbing bei Ihrer Arbeit?

Thomas Aigner: Jährlich kommen zwischen 1200 und 1300 Kinder zu uns — etwa die Hälfte davon sind wegen schulischer Probleme bei uns in Beratung. Von diesen Kindern sind etwa fünf bis zehn Prozent Opfer von Mobbing. Wir sprechen also von rund 30 bis 70 Kindern, die wir jährlich wegen Mobbing beraten. Das Thema hat beim Psychologischen Dienst hohe Priorität. Wenn es um Mobbing geht, versuchen wir, die Wartezeit auf einen Gesprächstermin sehr kurz zu halten. Es gibt aber auch zweimal wöchentlich unsere offene Sprechstunde.

Wo fängt Mobbing an?

Aigner: Mobbing ist das bewusste Kränken, Schikanieren, Herabsetzen des Betroffenen, aber auch absichtliche materielle Schädigung, körperliche Gewalt, Ausgrenzung, das Verbreiten von Unwahrheiten oder Gerüchten . . . Die Schule bietet dafür besonders viel Raum, weil man sie nicht einfach verlassen kann. Einen Fußballverein etwa kann man wechseln.

Nach einer Pisa-Studie ist jeder sechste 15-Jährige bundesweit von körperlicher und seelischer Gewalt an der Schule betroffen. Gibt es ein Alter, in dem besonders oft gemobbt wird?

Aigner: In der beginnenden Pubertät wird am häufigsten gemobbt — dabei spielt die Schulform keine Rolle. Das ist dieses Lebensalter, in dem junge Menschen so wahnsinnig verletzlich und kränkbar sind, die eigene Identität genauso Thema wie der Stellenwert in der Gruppe ist — da ist Mobbing am wirksamsten und deshalb auch besonders gefährlich.

Wie können die Mitarbeiter des Psychologischen Dienstes helfen?

Aigner: Es ist wichtig, die Situation erst mit dem betroffenen Schüler und seiner Familie alleine und vertraulich zu besprechen. Manchmal beraten wir dann auch, ohne die Schule einzubeziehen, weil die Betroffenen Angst haben. Grundsätzlich gilt aber: Intervention bei Mobbing ist dann sinnvoll, wenn alle im Boot sind: Opfer, Täter, Sozialpädagogen, Lehrer, auch die Schulleitung. Dann geht es darum, das Problem zu benennen — denn Mobbing funktioniert ja überhaupt nur, weil es auf dem Pausenhof, hinter den Mülltonnen, unsichtbar ist.

Damit, das Problem öffentlich zu machen, ist es vermutlich nicht getan.

Aigner: Es ist entscheidend, dass Leute, die in der Schule als mächtig erlebt werden — der Schulleiter —, das Problem ansprechen. Dabei muss der Täter nicht unbedingt als Schuldiger etikettiert werden. Oft ist es sinnvoller, sie zusammen mit sozial kompetenten Schülern aus dem Umfeld des Mobbingopfers als Teil der Lösung anzusprechen. Nach dem Motto: ,Wir brauchen Unterstützer, die das Opfer schützen.’ Wir nennen das ,No-Blame-Approach’.

Da ist das Klischee vom dicken Mädchen mit Brille oder dem Jungen, der lieber Klavier als Fußball spielt, und deshalb in der Schule die Außenseiterrolle rückt. Sind das auch tatsächlich die Mobbingopfer, die Sie in Krefelds Schulen treffen?

Aigner: Es stimmt: Deutlich übergewichtige Kinder werden oft gekränkt. Auch jemand, der sich schwertut, sich zu wehren, ängstlich ist, ist ein dankbares Opfer. Aber: Äußere Merkmale kann man bei jedem finden, jede Eigenschaft kann Gegenstand von Mobbing werden. Ich glaube: Mobbing ist weniger bedingt durch eine Eigenschaft der Opfer, als der Täter, die sich ein Opfer suchen.

Warum machen sie das?

Aigner: Aus Freude an sozialer Macht, weil es für sie eine Form von Selbstbestätigung ist. Die Täter sind häufig selbst unsichere Personen, die sich darüber profilieren, wenn sie andere niedermachen, und so versuchen, in der Gruppe stärker zu bleiben.

Viele Betroffene schämen sich, darüber zu sprechen, dass sie von ihren Mitschülern gemobbt werden.

Aigner: Bei den Opfern geht es um Scham, um Gesichtsverlust. Mobbing geht ganz tief in das Selbstwertgefühl, die innere Substanz, ans Selbstbild, die eigene Integrität. Das hinterlässt Wunden, die ein Pflaster nicht heilen kann. Nicht selten machen sich Mobbingopfer auch selbst Vorwürfe: ,Es liegt an mir, dass ich gemobbt werde’. Deshalb ist auch die Botschaft so wichtig: Die Ursache ist keine Eigenschaft des Gemobbten. Häufig dauert es sehr lange, bis Opfer sich trauen, ihre Scham zu überwinden und ihr Leid öffentlich zu machen. Manche finden dafür fantasievolle Wege.

Zum Beispiel?

Aigner: Zu uns kam mal ein Junge, der hat an sich selbst Briefe geschrieben, mit den Beleidigungen, die die anderen in der Schule ihm an den Kopf geworfen haben. Er wollte damit auf sich aufmerksam machen und Beweise für die Erwachsenen sammeln. Ein Mädchen hat Tagebuch über ihre Mobbingerlebnisse geschrieben und provoziert, dass ihre Mutter es findet und liest.

Nicht immer funktioniert das — manchmal auch zu spät. Das zeigt die kontrovers diskutierte Netflix-Serie „Tote Mädchen lügen nicht“, deren tragisches Ende den Selbstmord einer 17-jährigen Schülerin zeigt und die auf an ihre Mitschüler adressierten Kassetten schwere Vorwürfe erhebt. Ist es sinnvoll, das Thema Suizid so offen anzusprechen?

Aigner: Die Serie ist gut gemacht, sie spricht Klischees an. Da fragt man sich zurecht: Ist der gesellschaftliche Effekt nicht gut, wenn über das Thema nicht geschwiegen wird? Grundsätzlich weiß man aber, dass jede Darstellung von Suizid Nachahmer findet, besonders nach einer deutlichen Darstellung steigt die Zahl. Das war schon bei Goethes Werther so. Für Grenzgänger, die den Suizid als Möglichkeit zur Kommunikation mit anderen sehen, sich wünschen, endlich wahrgenommen zu werden, ein deutliches Zeichen setzen zu können, halte ich die Serie für brandgefährlich. Denn sie zeigt ja letztlich, welche Betroffenheit die Hauptdarstellerin mit ihrem Selbstmord bei ihren Klassenkameraden auslöst — und dass dieser Weg „erfolgreich“ ist.

Gibt es Warnsignale, auf die Eltern und Lehrer achten können?

Aigner: Als Erwachsener muss man höllisch aufpassen, weil die Wirksamkeit von Mobbing ja auch in der mangelnden Sichtbarkeit besteht. Wenn Kinder nicht mehr zu Geburtstagen eingeladen werden, wenn sie nicht mehr gern zur Schule gehen oder anfangen, zu schwänzen. Wenn sie im Unterricht stiller werden, sich zurückziehen, die Noten schlechter werden. Auch psychosomatische Symptome wie Bauchweh, Kopfschmerzen oder Schlafprobleme können Anzeichen für Mobbing sein. Bei solchen Hinweisen sollten Betroffene und Eltern professionelle Hilfe in Anspruch nehmen.

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