Lesung Vom Scheitern zweier melancholischer Glückssucher

Buchpreis-Träger Bodo Kirchhoff über die Entstehung der Novelle „Widerfahrnis“ und die Bedeutung der Sprache.

Lesung: Vom Scheitern zweier melancholischer Glückssucher
Foto: Sergej Lepke

Düsseldorf. Der Blick konzentriert sich auf die Seiten vor ihm, sucht nur hin und wieder den Kontakt zu den Menschen gegenüber. Die eine Hand hält das Buch fest, die andere tanzt zum Rhythmus der Worte — jedes einzelne wird mit Nachdruck und Gefühl ausgesprochen. Bodo Kirchhoff entführt seine Zuhörer, die an diesem Abend zur Deutschen Bank an die Kö gekommen sind, auf eine literarische Reise. Sein Vortrag ist trotz starker Erkältung ohne Versprecher, spannend, bildhaft und lebendig.

Vor einem Monat wurde seine Novelle mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten: Der Titel „Widerfahrnis“ steht ganz im Gegensatz zur Sprache, die stets eine Herzensangelegenheit des Autors ist. An der er feilt, Ausdruck seiner stilistischen Souveränität. Und „aus der die Geschichte und deren Figuren entstehen — nicht umgekehrt“.

Zwei am Leben gescheiterte Silverager gehen spontan auf eine Reise, die sie immer weiter nach Süden bis nach Sizilien und in eine späte, aber unerfüllte Liebe führt. Vier Tage dauert das literarische Roadmovie, das kein happy End findet, da über das Paar unterwegs in Person eines Flüchtlingsmädchens das Weltgeschehen hereinbricht. Beide haben eine Tochter verloren. Ihre Tochter kam mit der Welt nicht zurecht und nahm sich das Leben, er ließ seine Tochter erst gar nicht zur Welt kommen, drängte seine Partnerin zur Abtreibung. Und so stolpern Julius Reither und Leonie Palm in den Versuch, mit der vermeintlich wiedergefundenen Tochter eine Familie zu bilden. Ein Versuch, der scheitern muss.

Rund sieben Fassungen hat das Buch durchlaufen, bis es gedruckt wurde, weil Kirchhoff immer wieder Worte gestrichen hat (und noch heute streicht). Der Schriftsteller ist nie ganz zufrieden. Viel wurde über den Titel gerätselt, der, „erstaunlicherweise nicht im Duden steht und doch völlig für sich spricht“.

Schwieriger war es da schon mit der Geschichte selbst, die dem ehemaligen Verleger Reither, „der keine Bücher mehr verlegt, weil sie nicht gelesen werden“ und der Palm, die ihren Hutladen aufgegeben hat, „weil es der Zeit an Hutgesichtern fehlt“, widerfährt. Kirchhoff erzählt sie aus der Perspektive Reithers, was das Arbeiten an der Sprache auch in der Erzählung immer wieder erlaubt. „An der Geschichte fehlte aber was“, erinnert sich der Autor.

Das änderte sich, als er im vergangenen September nach Sizilien fuhr, wo damals viele Flüchtlinge gestrandet waren: „Wir saßen beim Essen draußen in Catania. Da kam dieses Mädchen auf uns zu und bettelte.“ Aus einem Reflex heraus gab er ihm 20 Euro, „für alle Beteiligten zuviel. Wir alle waren erschrocken.“ Die Situation überforderte, das Wissen, „egal, was man macht, man macht es falsch“. Für den Schriftsteller aber, in dem das Geschehene arbeitete, war der fehlende Baustein für das Buch gefunden.

Das Thema Flüchtlinge fügte sich gut in die Geschichte um die beiden melancholischen Glückssucher ein. Nicht zuletzt, weil es auch hier wieder um Sprache geht. Konkret um deren Ungenauigkeit, deren Verwilderung. Kirchhoff bemängelt sowohl die Experten-Diskussionen (im Fernsehen) über Flüchtlinge als auch die populistischen Demonstrationen gegen Flüchtlinge — weil sie nicht die richtige Sprache verwenden: „Ein Wort wie Flüchtlingkrise verbessert überhaupt nichts.“ Sein Buch aber ist ein möglicher Beitrag.

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