Theater-Premiere: Grausame Autopsie am lebenden Objekt

Bernarda Horres seziert die Familie Buddenbrook - eine bittere Studie über Verfall und Auflösung.

Krefeld. Die Möglichkeit von Glück blitzt immer wieder auf. Wenn Tony Buddenbrook (Esther Keil) am Strand von Travemünde hofft, tatsächlich aus Liebe heiraten zu können und nicht zum finanziellen Wohl der Familie. Wenn ihr Bruder Christian (Ronny Tomiska) vom Theater schwärmt: "Allein das Wort macht mich glücklich." Selbst Thomas (Christopher Wintgens), der die Ideologie der Geldvermehrung und Selbstverachtung verkörpert wie kein zweiter, scheint für einen Moment unbeschwert mit seinem kleinen Sohn Hanno (Crispin Neumann) Fußball zu spielen - bis Wut über die Zeitverschwendung aus ihm herausbricht.

Bei den Buddenbrooks, von Thomas Mann um 1900 ersonnen, durch John von Düffel 2005 auf die Bühne gebracht und jetzt in Krefeld erstmals aufgeführt, sind Glück und Freude nicht vorgesehen. Es geht um Höheres, um Wohlstand, Tradition und Ansehen, kurz gesagt: um Geld. Zahlen, sei es die Höhe einer Mitgift oder die Größe des Vermögens, definieren die Menschen und liegen wie Flüche auf ihrem Leben. Das Vermaledeite am Dezimalsystem ist, dass es ins Unendliche geht: Jede noch so hohe Zahl hat eine höhere neben sich, auf die man neidisch schielen kann.

Die Lebenszeit hingegen ist begrenzt. Wenn der Konsul (Joachim Henschke) und die Konsulin (Ines Krug) sterben, bleiben sie wie Mahnmale auf der Bühne liegen oder sitzen, reglos, wie versteinert. Das traute Heim ist voller Leichen, doch die Lebenden lassen sich vom Gestank nicht aus dem Konzept bringen.

Regisseurin Bernarda Horres verhängt Anwesenheitspflicht für ihre Schauspieler. Wer nicht vorne im großen leeren Bühnenraum gegen die Einsamkeit anspielt, spukt durch die drei Stockwerke des Hauses oder bleibt im Dunkeln dahinter erahnbar. Anja Jungheinrich hat die Villa Buddenbrook als schiefes Skelett eines Gebäudes entworfen, in dem es keine privaten Winkel gibt. Jedes Gefühl, jeder Blick ist sichtbar, die Figuren sind nackt, da können sie noch so sehr auf ihre äußere Erscheinung achten (Kostüme: Stephanie Geiger).

In den Dialogen lässt Horres die Darsteller mit großer Körperlichkeit agieren: Sie attackieren sich aggressiv, bedrängen sich sexuell, boxen sich spielerisch, kichern, schreien wie Affen. Die Anzeichen von Auflösung, die Thomas’ Frau Gerda (Floriane Kleinpaß) am Ende erkennt, sind von Anfang an zu sehen. Horres legt die Krankheitsherde in dieser Familie gnadenlos frei: Ihre Inszenierung ist eine grausame Autopsie am lebenden Objekt.

Die Schauspieler lassen diese schmerzhafte Prozedur zu, sie stellen sich mit großer handwerklicher Präzision und emotionaler Hingabe in den Dienst der Inszenierung. Das Ensemble, in dieser Besetzung letztmals zu sehen, zeigt bis in die Nebenrollen (Ralf Beckord, Frederik Leberle) seine Klasse. Der Kern des Stücks (und der Familie) ist Thomas, den Wintgens als Getriebenen spielt, rastlos, schwitzend und zuckend. Man hat das Gefühl, dass sein innerer Druck sich nach außen wendet und stark genug ist, die Familie zu zerquetschen.

Diese konzentrierte, gewaltsame und irritierende Inszenierung hat dem Roman letztlich etwas voraus: Intensität und Direktheit. Thomas Mann darf man aus vielen Gründen verehren, aber sicher nicht für seine Fähigkeit, schnell auf den Punkt zu kommen: Den Niedergang einer Familie, den er quälend langsam schildert, erlebt man hier wie einen Unfall ohne Knautschzone. Viel Applaus und Bravo-Rufe.

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