Stadttheater: „Aus der Zeit fallen“ - Dabei sein, in jener Nacht

Regisseurin Dedi Baron hat mit „Aus der Zeit fallen“ ein fesselndes Stück geschaffen. Der Autor selbst war im Anschluss berührt.

Stadttheater: „Aus der Zeit fallen“ - Dabei sein, in jener Nacht
Foto: Matthias Stutte

Krefeld. Während die Zuschauer Platz nehmen, sitzen die fünf Schauspielerinnen und Schauspieler an dem großen massiven Holztisch in der Mitte der Bühne und agieren recht unauffällig. Der Mann (Bruno Winzen) schleift ein Messer; doch das scheint mehr eine meditative Handlung zu sein denn ein Bemühen, der Frau (Eva Spott) auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches zügig ein scharfes Werkzeug für das Kochen zu liefern. Sie höhlt gerade einen Kürbis aus. Ein großer Topf steht auf der brennenden Flamme eines Gaskochers.

In diese Atmosphäre ruhiger Geschäftigkeit erhebt ein anderer Mann (Joachim Henschke) am Tisch seine Stimme: „Wenn ich es nicht schreibe, dann werde ich es nicht verstehen.“ Damit lenkt er den Blick auf die literarische Vorlage der Aufführung: das sehr persönliche Buch „Aus der Zeit fallen“ des israelischen Autors David Grossman. Hierin schildert er seine Gefühlswelt nach dem Tod seines Sohnes im Libanonkrieg.

Das Schreiben war ihm Therapie, fünf Jahre später diesen Verlust zu verarbeiten. Die israelische Regisseurin Dedi Baron hat im Auftrag des Theaters Krefeld Mönchengladbach das Werk in der Fabrik Heeder — und im Studio Mönchengladbach — auf die Bühne gebracht. Am Donnerstag erlebte das Stück seine Krefelder Premiere.

Bald wird in der Aufführung klar, dass es sich bei dem Messer schärfenden Mann um den Vater des gefallenen Soldaten handelt, bei der kochenden Frau um dessen Mutter. Der Zuschauer ist Augenzeuge bei Schiv’a, der jüdischen Tradition der sieben Trauertage nach einer Beerdigung.

Joachim Henschke in „Aus der Zeit fallen“

An denen geht man ins Trauerhaus nicht nur zu Kondolenzbesuchen, sondern auch um Gemeinschaft zu erleben, in dem ebenso Momente eines heiteren Gedenken an den Verstorbenen ihren Raum finden. Doch davon ist der Vater weit entfernt. Lange Zeit hält er seinen Kopf unter dem Tisch, als wolle er von seiner Umwelt nichts wahrnehmen.

Er ist in Gedanken „in jener Nacht“, in der es geschah, und er will „dort“ hin, um seinem Sohn noch einmal nahe zu sein. „Komm zu uns, zu mir zurück!“ sagt seine Frau immer wieder. Doch es wird zum wesentlichen Themenstrang des Stückes, dass er dazu nicht in der Lage ist. Das Spiel auf der Bühne ist eindringlich und fesselnd in einer ruhigen Atmosphäre.

Die Sprache der Schauspieler sowie die sparsam eingesetzten und daher besonders stark wirkenden Geräusche wie das Messer wetzen, Kochen oder langsame, leise Klänge eines Akkordeons ziehen das Publikum in ihren Bann. Es fällt auf, dass eine Reihe von Zuschauern das Spiel mit geschlossenen Augen verfolgen, es somit als sensibel gestaltetes Hörspiel verstehen wollen.

Baron ist mit ihrer Inszenierung gelungen, das Buch in zweifacher Form eindrucksvoll auf die Bühne zu bringen — zum einen als Theaterstück, zum anderen als faszinierendes Hörspiel. Dem mag man sich durchaus lieber hingeben, wenn Aktionen, wie zum Beispiel die auf dem Rücken Akkordeon spielende und gleichzeitig auf dem Boden um den Tisch rutschenden Hebamme (Vera Maria Schmidt), „stören“, weil man versucht ist, den Sinn dieser Handlung zu verstehen. Noch wird nicht deutlich, dass sie und ihr Mann (Felix Banholzer) eine kleine Tochter verloren haben — ein zweiter, untergeordnet erscheinender Strang der Aufführung. Mit einem mulmigen Gefühl verfolgt die Regisseurin die Krefelder Premiere, denn David Grossman ist anwesend. „Seine Reaktion war fantastisch“, sagt Baron hinterher, „er war sehr berührt, er hat alles verstanden. Er ist grundsätzlich sehr kritisch.“ Und sie gesteht noch: „Ich habe Angst davor gehabt.“

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