Premiere "Verbrennungen": Wie ein Schlag in die Magengrube

Das Drama „Verbrennungen“ wühlt auf und rührt zu Tränen. Die Bilder bleiben hängen.

Krefeld. Geräuschlos fallen die Stoffpuppen auf den Boden. Eine nach der anderen holt der Arzt (Christopher Wintgens) sie aus der Tasche seines schmutzigen Kittels, während er die Vorgeschichte des jüngsten Massakers erzählt. Die Kausalkette endet erst, als sein Gedächtnis ihn im Stich lässt. Wo fing sie noch mal an, die logische Formel der Gewalt? Ursache, Wirkung, Tat und Vergeltung — ein ewiger Kreislauf.

Welch unmenschliche Anstrengung es erfordert, diesen Kreislauf zu durchbrechen, davon handelt „Verbrennungen“, die erste Premiere der neuen Spielzeit im Stadttheater. Der Autor Wajdi Mouawad ist Libanese, er hat sein Stück im kanadischen Exil geschrieben, in sicherer Entfernung zu den Pulverfässern in seiner Heimat.

Den Weg der Annäherung, den er als Autor geht, lässt er auch seine Figuren beschreiten. Jeanne (Henrike Hahn) und Simon (Cornelius Gebert) erhalten nach dem Tod der Mutter per Testament zwei Aufträge: Ihren Vater und ihren Bruder sollen sie finden, der eine totgeglaubt, der andere nie zuvor erwähnt. Während Simon mit rasender Wut reagiert, beginnt Jeanne mit der Suche. Die Neugier treibt sie und das Rätselraten über die Frage, warum die Mutter in den letzten fünf Jahren ihres Lebens beharrlich geschwiegen hat.

Die Konstruktion des Stücks mit seinen Haken und Ösen, den falschen Fährten und Momenten der Wahrheit, ähnelt den Thrillern, mit denen das amerikanische Independent-Kino in den vergangenen 20 Jahren die Grenzen filmischer Erzählung ausgelotet hat. „Memento“, „Bound“ oder „Die üblichen Verdächtigen“ hallen darin wieder — nur, dass Mouawad sich nicht mit Mafiosi und Gaunern befasst, sondern mit Schurken historischer Dimension: Kriegsverbrechern, Folterern, Sadisten.

Nichtsdestotrotz bleibt sein Plot ein Krimi, und so bringt ihn Regisseur Matthias Gehrt auch auf die Bühne. Mit Umbauten, die wie schnelle Schnitte zwischen Szenen wirken, mit Parallelmontagen und Rückblenden, mit der treibenden Musik von Jörg Ostermayer als Kitt. In über zwei Stunden gibt es keinen Moment der Langeweile. Der Spannungsbogen trägt in einer Weise, die man im Schauspiel selten erlebt, schon eher im Kino.

Gleichwohl werden die filmischen Qualitäten des Stücks nur angedeutet, nicht ausformuliert. Gehrt überfrachtet seine Inszenierung nicht — sein Film bleibt pures Theater. Nur skizzenhafte Kostüme (Dorothee Schumacher) braucht er dafür, nur Tafel und Kreide als Bühnenbild, eine rote Lampe dicht über dem Boden, einen Stuhl, eine Bank, auf der die Schauspieler im Halbdunkel auf ihre Einsätze warten. Die riesige Leinwand, die Bühnenbildnerin Gabriele Trinczek hinten aufgebaut hat, zeigt lediglich Jahreszahlen, keine Videos. Die Bilder von Krieg, Leid und Tod entstehen in den Köpfen der Zuschauer.

„Verbrennungen“ fühlt sich an wie ein Kloß im Hals, der nicht verschwinden will, wie ein Schlag in die Magengrube, der als taubes Gefühl lange nachwirkt. Das Stück führt nicht nur ins Zentrum eines Krieges, in dem ein Volk sich selbst zerreißt, sondern auch ins Herz einer Familie, die an den Folgen zugrunde geht. Nawal, die Mutter von Jeanne und Simon, hat ein Geheimnis mit ins Grab genommen, in dem sich das Grauen einer ganzen Nation spiegelt.

Wie Esther Keil diese Nawal verkörpert, über Jahrzehnte hinweg, von der ersten Liebe eines jungen Mädchens bis zur kalten Abrechnung einer alt gewordenen Frau, das ist höchste Schauspielkunst, nicht nur im handwerklichen Sinne. Keil legt eine Sensibilität und eine innere Kraft in diese Rolle, die sich in den Saal überträgt. Sie wühlt Wut auf und rührt zu Tränen, ohne es theatralisch darauf anzulegen. Die meiste Zeit scheint sie ganz bei sich zu sein und bei der Frau, die sie spielt.

Neben ihr entfalten sich starke Porträts: Henrike Hahn in einem vielversprechenden Debüt als Jeanne, Joachim Henschke als Nawals verhüllte Großmutter, Adrian Linke als kaputter Scharfschütze mit Songs von The Police und Supertramp auf den Lippen. Christopher Wintgens beweist in vier Glanzauftritten seine zuletzt selten geforderten Qualitäten: als nervöser Notar, desillusionierter Arzt, brutaler Milizionär und als Hausmeister, der den Krieg und die Folter endlich vergessen will.

Ein weiterer wichtiger Darsteller dieses bewegenden Theaterabends ist das Licht. Die Scheinwerfer setzen, meist von der Seite, auf der schummrigen Bühne Akzente, vor allem in der unvergesslichen Schlussszene. Sie stellt — auch das ein Mittel jener cleveren Kino-Thriller — das Stück nochmals auf den Kopf.

Dem Autor dürfte bewusst sein, dass er spätestens hier haarscharf am Abgrund zum Pathos entlang balanciert. Er formuliert eine Utopie, die vor dem Hintergrund aktueller Nachrichtenbilder wie blanker Hohn klingt. Doch Mouawad hat Recht: Ohne diese Utopie wird es niemals Frieden geben.

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