Menschliche Käfer krabbeln durch einen Raum ohne Ausgang

„Verwandlungen“ nach Franz Kafka handelt von den Wünschen und Ängsten der jugendlichen Darsteller.

Menschliche Käfer krabbeln durch einen Raum ohne Ausgang
Foto: Thomas Weinmann

Krefeld. Die jungen Schauspieler richten sich ihre Bühne selbst ein: Müllsäcke, mit Kunststoffresten vollgestopft, entleeren sie auf die quadratische Bühne der Fabrik Heeder. Dann schnallen sie sich Gelenkschoner um und ziehen weiße Kittel über, die sie mit schwarzem Klebeband fixieren.

Das Stück „Verwandlungen“ des Kresch-Theaters hat Premiere gefeiert. Und das mit einer anspruchsvollen Folge von Szenen, die junge Leute binnen eines Jahres zusammen mit Regisseur René Linke erarbeitet haben.

So wie das Ensemble die Bühne verwandelt, müssen auch die Zuschauer eine andere Position beziehen. Sie werden für den Anfang auf das erste Geschoss geführt und haben eine gleichsam schöpferische Perspektive inne, ohne eingreifen zu können. Unten zwischen den Säulen verlängern Gazevorhänge die Mauern: Die Menschen — oder sind es Käfer? — bewegen sich in ihrem eigenen Raum ohne Ausgang.

Sie bedienen sich einer Fülle von Möglichkeiten: Literarische und wissenschaftliche Einspielungen, Worte und Schreie, Geräusche und Musik, Projektionen und Rituale. Kafka wird zitiert, entomologische Zeichnungen werden projiziert. Sexualität wird zum Thema, Brummer sind zu hören, Chitinpanzer knacken, Angst wird heraus geschrien.

Die acht Mädchen und drei Jungen zelebrieren gewandelte Rituale: So gehen sie in ihren Converse-Schlappen über die Berge von Schaumstoff, recken die Arme nach oben, neigen den Rumpf nach vorne und lassen ihre Handgelenkschoner aufeinanderklappern. So hat man sich vor 100 Jahren die Insassen der Irrenanstalten vorgestellt, so bewegen sich Menschen mit autistischer Störung, so verhalten sich die Insekten in ihren Staatsgefügen. Bewegen sie sich eigenwillig oder fremdgesteuert?

Dass einige Verwandlung als Glück betrachten, wird eindringlich klar mit der Dame von „Insektopädia“. Esoterisch wirbt sie um Kundschaft: „Verwandeln Sie sich! Sie werden endlich nicht nur Sie sein! Schluss mit dem erschöpften Ich!“ Ein Angebot auch an die wandernde Zuschauerschaft, die auf dem Weg auf die angestammten Plätze eine rote oder grüne Phiole auswählen kann, um die Wandlung selbst zu erleben. Beilage: Eine geröstete Heuschrecke.

Auch das ist ein Aspekt in diesem weitgreifenden Stück: Die Ernährung der Menschenmilliarden sei langfristig nur mit dem Eiweiß der Insekten denkbar. Mit der eigenen Verwandlung in ein Insekten-Ich entgeht das Subjekt einer Verpflichtung, die ihm das Denkvermögen auferlegt: Es muss nicht mehr entscheiden. Und das eben ist auch ein Wunsch der zerrissenen, vielschichtigen, neugierigen, erschrockenen und zugleich unerschrockenen Jugend: „Ich will nicht alles wissen — Schluss mit der Aufklärung.“ Eine Fülle an Gedanken und Sinneseindrücken breitet sich bei diesem Stück aus. Was hat mehr Sinn: Die ewige Suche des Menschen oder die simple Lebensform der Jahrmillionen alten Insekten?

Infos beim Kresch: Telefon 86 26 26.

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