Kunstprojekt: Quadrate erzählen von Leben und Tod

Mies-Stipendiatin Rossella Biscotti verwebt im Haus Esters Bevölkerungsstatistik zu Teppichen — ein kluges Gedankenexperiment.

Kunstprojekt: Quadrate erzählen von Leben und Tod
Foto: DJ

Krefeld. Auf den Teppichen, die im Haus Esters hängen, stehen eine halbe Million Schicksale geschrieben. Alles, was der Betrachter davon sieht, sind graue und schwarze Quadrate: Jedes steckt voller Biografien von Lebenden und Toten, jedes könnte Fotoalben hervorbringen oder Tagebücher. Jedes erzählt Geschichten, die nur Rossella Biscotti hören kann — und selbst sie kennt nur einen winzigen Bruchteil davon.

Die junge Italienerin, die ab Sonntag als Mies-van-der—Rohe-Stipendiatin 2014 im Haus Esters ausstellt, hat Daten der jüngsten Volkszählung ihrer Wahlheimat Brüssel ausgewertet. Sie, die Einwanderin, hat sich dabei auf Einwanderer konzentriert, auf ihre Herkunft und den Anteil an alleinerziehenden Müttern, Scheidungskindern, Sterbefällen. Die komplizierten Tabellen, die sich daraus ergeben, hat sie in Muster übersetzt und zu erstaunlich schönen, rätselhaften Pixel-Teppichen weben lassen.

Diese Arbeitsweise, in der das Kunstwerk das Endergebnis einer gigantischen Recherche darstellt, ist typisch für Biscotti. „Sie braucht Monate, manchmal Jahre, um Projekte zu entwickeln“, sagt Kuratorin Magdalena Holzhey. In einem Frauengefängnis sprach Biscotti mit den Insassen über ihre Träume, in einem litauischen Atomkraftwerk kaufte sie Kupferkabel und Blei. Auch aus diesem Nuklearschrott entstand Kunst, die nun im Haus Esters zu sehen ist.

Kern der Schau „10 x 10“ sind jedoch jene vier Teppiche, zumal Biscotti damit nicht nur von Migration erzählt, von Globalisierung und vom Leben in Brüssel, sondern auch viel über Krefelds Historie. Dass sie die Statistiken ausgerechnet verwoben hat, ist natürlich kein Zufall: Die Arbeiten verweisen auf die Technik der Jacquard-Webstühle, die in der textilen Vergangenheit Krefelds eine wichtige Rolle spielen und die bis heute im Haus der Seidenkultur zu sehen sind.

Auch dort und im Textilmuseum hat Rossella Biscotti recherchiert — und mit eigenen Augen gesehen, dass die Lochkarten-Systeme der Webstühle ein Vorläufer jener Computer sind, die heutzutage etwa komplexe Daten von Volkszählungen auswerten. So klug, so raffiniert und verschachtelt kann Kunst sein.

Wie anders das menschliche Auge auf die anonymen Zahlen blickt, zeigt Biscotti mit wenigen farbigen Quadraten in der grauen Masse. Per Legende stellt sie dar, wer sich dahinter verbirgt. Da ist eine eingebürgerte Frau, 49 Jahre alt, verheiratet, Kinder. Ein paar Meter weiter, auf einem anderen Teppich, findet sich ihre sechsstellige „Household ID“ erneut: ihr Mann, Migrant, 55 Jahre, ist verstorben. Die Geschichte dahinter, eine von 500.000, lässt sich nur erahnen.

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