Esther Keil: Tastend auf Entdeckungsreise

Ob Kriegsopfer, Miststück oder Bewohnerin eines Sandhügels: In ihrem 15. Jahr am Niederrhein ist die Schauspielerin besser als je zuvor.

Krefeld. Esther Keil als Entdeckung zu beschreiben, wäre ziemlich absurd. Seit 1999 spielt sie am Theater Krefeld-Mönchengladbach, nur Joachim Henschke ist länger da. 14 Jahre sind eine ungewöhnliche Zeitspanne in einer Branche der Wandervögel, bei der 44-Jährigen sind sie fast das ganze bisherige Bühnenleben. „Es ist ein Geschenk, dass ich diesen Beruf ausüben darf, ohne ständig Bewerbungen zu schreiben“, sagt sie. „Ich darf einfach spielen.“

Mitläuferin war sie nie in all den Jahren. Sie war die Alice in „Hautnah“, die Schwester Ratched im „Kuckucksnest“, die Sally in „Cabaret“ und Johnny Cashs Partnerin June Carter in „The Beast in Me“. Bleibende Rollen waren das, auf die das Gedächtnis der Theaterbesucher jederzeit zurückgreifen kann. Irgendwann in diesen Jahren ist aus der durchreisenden Schauspielerin eine feste Größe geworden.

Und doch kann, wer genau hinsieht, Esther Keil seit einigen Monaten neu entdecken. Sie scheint präsenter als je zuvor, sie trägt Stücke, statt sie nur zu stützen. Sie scheint wandelbarer geworden zu sein, bereit, sich für jede Arbeit neu zu erfinden. Und sie hatte das Glück, dass die Stücke, in denen sie diese Anstrengung auf sich nahm, zum Besten gehören, was in der Ära Grosse auf der Bühne zu sehen war.

Um Esther Keil mit neuen Augen zu betrachten, muss man sie als Winnie in Samuel Becketts „Glückliche Tage“ erleben. Erst bis zur Hüfte, dann bis zum Hals, steckt sie da in einem Sandhügel und empfindet das „wie eine Amputation“. Einer Schauspielerin die Beweglichkeit zu nehmen — erst die Füße, dann noch die Gestik — das heißt, sie auszuliefern. „Es war eine Zumutung“, sagt sie. „Und eine tolle Herausforderung.“

Im Zug nach Berlin las Keil, die noch nie Beckett gespielt hatte, zum ersten Mal den Text. Sie fand ihn großartig, vor allem die Kunst, „alles auf einen Kern einzudampfen“. Doch sie hat auch einen Heidenrespekt vor der extremen Rolle: „Wenn ich das schaffe, schaffe ich alles.“

Acht Wochen lang probte sie mit Regisseur Nicholas Monu und Intendant Grosse in der Fabrik Heeder, Satz für Satz, Geste für Geste. Pause für Pause. Abends lernte sie den Text, oft bis Mitternacht, auch Becketts penible szenische Anweisungen: „Dass er alles so festlegt, gibt einem eine merkwürdige Freiheit“, sagt Keil.

Im nachgebauten Sandhügel sitzt sie auf einem Barhocker, darauf ein elastisches Sitzkissen, wie ein letzter Rest Beweglichkeit in der totalen Erstarrung. Das Publikum klebt an ihren Lippen. Diese jämmerliche Winnie in ihrem sinnlosen Festklammern an den Ruinen der Liebe, rührt zu Tränen. „Sich mit dieser Frau zu beschäftigen, macht einen wahnsinnig“, sagt Keil. „Manchmal hält man es nicht aus mit der.“ Und doch hat sie Winnie immer wieder verteidigt, auch vor dem Regisseur. „Dieser eiserne Lebenswille, dieses Festhalten.“ Irgendetwas an den Figuren, die sie spielt, muss Esther Keil immer mögen. Etwas muss sie in sich selbst finden, sagt sie.

Sogar bei Célimène, dem manipulativen Miststück, das in Molières „Menschenfeind“ mit Männern spielt, als seien sie Mäuse, ist das so. „Ich mag diese Unabhängigkeit, die sie für sich in Anspruch nimmt, das Spielerische und die Leichtigkeit.“ In dieser Zeit sei sie oft nach den Proben oft beschwingt aus dem Theater gekommen, sagt sie, und dieses Gefühl überträgt sich in den Saal, ein Knistern, zu hören bis in die letzte Reihe.

Wie die anderen Schauspieler steht Esther Keil in der Inszenierung von Christoph Roos auf einem wackligen Boden, der sich bei jedem Tritt neigt. Doch Keil wiegt nicht genug, um die riesige Wippe zum Kippen zu bringen. Genau so spielt sie Cèlimène: leichten Schrittes, unbeirrt und unbeirrbar, frei in der gleichen extremen Weise, wie sie als Winnie gefangen war, mädchenhaft, wo sie doch als Winnie um Jahrzehnte gealtert schien.

Im Bürgerkriegs-Drama „Verbrennungen“ ist sie als Nawal dann alles in einem: 14 Jahre jung, 60 Jahre alt, auf grausame Weise gefangen und doch mit freiem, starkem Willen. Perücken und Masken will sie dafür nicht, auch keine naturalistischen Szenen von Mord, Folter und Vergewaltigung. „Ich fände es anmaßend, eine Frau zu spielen, der so etwas geschieht.“

Esther Keil — da ist sie sich mit Regisseur Matthias Gehrt einig — will nicht Gewalt darstellen, sondern zeigen, was Gewalt mit einem Menschen macht. „Gleichzeitig hatte ich Angst, dass alles in Betroffenheitskitsch mündet“, sagt sie. „Ich wollte mich nicht heulend in den Text hinein schmeißen.“

Die Zurückhaltung zahlt sich aus: Keil holt die Wucht der Sprache auf den Boden der Realität und widersteht der Versuchung, Momente auszukosten, das Schicksal ihrer Figur auszubeuten. Anders als die Wippe, die ihr wenig anhaben konnte, ist das gefährliches Terrain. Behutsam tastet Esther Keil sich vor, um hinter den fernen Gräueln und dem naheliegenden Pathos Nawal zu entdecken. Wir haben das Glück, ihr dabei zuzusehen.

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