Das Schillern der Stoffe

Zwölf Künstler stellen das Material in den Mittelpunkt ihrer Arbeit. In den Häusern Esters und Lange entsteht daraus eine faszinierende Ausstellung.

Das Schillern der Stoffe
Foto: Jochmann, Dirk (dj)

Krefeld. Am Anfang ist das Material. Es bildet den Grundstoff, aus dem Künstler ihr Werk formen, es hat sich dem schöpferischen Willen unterzuordnen. Diesen Glauben zu erschüttern und das Material selbst in den Fokus der Kunst zu stellen, war in den 1960er Jahren ein revolutionärer Akt. Stoffreste, Plastikstücke, Abfälle, Kleber — das sollte plötzlich Kunst sein?

Das Schillern der Stoffe
Foto: Jochmann, Dirk (dj)

Wie jeder Umsturz des Denkens lässt sich auch dieser nicht beliebig wiederholen. Und doch zeigt die Ausstellung „Living in the material world“, die morgen in den Häusern Esters und Lange beginnt, dass der Stoff, aus dem Kunst entsteht, uns bis heute mit fesselnden Fragen konfrontiert — selbst wenn man nicht immer eine Antwort findet.

Das Schillern der Stoffe
Foto: Volker Döhne

So radikal wie rätselhaft geht die junge Norwegerin Ane Mette Hol (*1979) mit Material um. Die länglichen Verpackungen zweier handelsüblicher Leuchtstoffröhren hat sie in eine Ecke gestellt — nur wer ganz nah herangeht, erkennt, dass es sich um Fälschungen handelt. Hol hat die Verpackungen nachgebaut, die Beschriftung akribisch abgezeichnet. Auch ein Abdeckpapier mit Farbsprenkeln entpuppt sich als Täuschung. Hol sagt, sie hat es Sprenkel für Sprenkel nachgezeichnet: „Aber ich würde das Original nie danebenlegen.“

Einen gigantischen Aufwand betreibt auch die Spanierin Lara Almarcegui (*1972), doch wie bei Hol verschwindet all die Mühe hinter einer nüchternen Fassade. In wochenlanger Arbeit hat Almarcegui gemessen und ausgerechnet, wie viele Tonnen welchen Materials in Haus Lange verbaut sind. So steht es nun an der Wand: 1194,63 Tonnen Ziegel, 537,4 Tonnen Beton, aber nur 2,06 Tonnen Glas. Das „Kochrezept“ mit 14 Zutaten verweist auf die Entstehung des Hauses und zugleich auf seine Zukunft: „Wenn es zerstört wird, kommt genau das wieder heraus.“

Im Gegensatz zu seinen Kolleginnen macht der Berliner Michael Beutler (*1976) seinen Arbeitsprozess transparent. Er hat seine Werkstatt kurzerhand ins Haus Esters verlegt, inklusive einer Maschine zum Falten von Papier und einer zur anschließenden Verwurstung des Materials. Aus den Würsten bastelt er wiederum Werkbänke, die keinen Hammerschlag aushalten würden. Darin ähneln sie der nur scheinbar robusten Konstruktion, die Oscar Tuazon (*1975) aus Betonstein, Holzbalken und Eisenstützen errichtet hat. Der Mann schert sich nicht um Statik, er baut nach Bauchgefühl — bis kurz vor dem Zusammenbruch oder einen Schritt weiter.

All diese Arbeiten wirken wie Gedankenexperimente, theoretische Abhandlungen über Wirklichkeit, Illusion und das Wesen der Kunst. Dass die „Obsession für das Material“, die Kuratorin Sylvia Martin allen zwölf Künstlern attestiert, jedoch auch sinnliche Ergebnisse hervorbringt, zeigt sich an den verführerisch spiegelnden Kunststoffschlingen der gebürtigen Düsseldorferin Berta Fischer (*1973) oder den grob gehauenen Holzköpfen der Dänin Marie Lund (*1976). Sie kauft Skulpturen anderer Künstler auf und bearbeitet sie so lange, bis nur noch die grobe Form übrigbleibt. Schlag für Schlag, so scheint es, tritt dabei das Holz, das einst Ausgangsmaterial war, wieder in den Vordergrund.

Wie die Kunst ihr Material verwandelt, zeigen auch die faszinierenden Arbeiten des Düsseldorfers Markus Karstieß (*1971), der erst vor zwei Jahren im Krefelder Kunstverein ausgestellt hat. Er hat Pappkartons mit Ton überzogen, mit Glasresten gefüllt und gebrannt. Das oft minderwertige Glas der Bier- oder Whiskyflaschen, Überbleibsel von Studentenpartys in Karstieß’ zwischenzeitlicher Heimat Newcastle, bildet in den fossilen Kästen blau schillernde oder weiß brodelnde Füllungen. „Die chemische Reaktion ist unkontrollierbar“, sagt Karstieß. Ein entscheidender Satz, für den die Ausstellung Belege liefert: Je mehr Freiheit man dem Material lässt, umso mehr gibt es zurück.

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