Hüls Solange Alfred aus Hüls noch singt

Krefeld · Jeden Abend spielt Alfred Bohnen Songs von den Beatles und Johnny Cash im Internet. Nicht erst das Coronavirus hinderte ihn daran, wieder auf eine Bühne zu gehen. Geschichte eines Comebacks.

 Ein Mann, ein Hut, eine Gitarre – wenn Alfred Bohnen abends in seinem Keller spielt, hat die Welt schon wieder einen Tag überstanden.

Ein Mann, ein Hut, eine Gitarre – wenn Alfred Bohnen abends in seinem Keller spielt, hat die Welt schon wieder einen Tag überstanden.

Foto: Andreas Endermann

Die Welt wartet nicht auf einen wie Alfred Bohnen, einen Gruß hat er sich trotzdem überlegt. Vor und nach seinem täglichen Internetkonzert streckt er seinen Zeige- und Mittelfinger zum „V“ in die Handykamera. Häufig spreizt er noch den Daumen ab, als wolle etwas in ihm drei Pils bestellen. In jeder Stadt gibt es jetzt so einen, der nach seinem Instrument greift und ein Konzert ins Internet überträgt, weil alle anderen Bühnen wegen Corona gesperrt sind. In Hüls gibt es eben Alfred Bohnen, 68, Rentner. Vielleicht war es das schon, was man über ihn wissen muss.

27. März. Das Robert-Koch-Institut meldet 5780 Corona-Neuinfizierte und 55 weitere Tote in Deutschland. Alfred, weißer Vollbart, kräftige Statur, schwarzer Cowboyhut, sitzt mit Gitarre im Keller, grünes Licht leuchtet. Er sagt: „Die Lage, die wir im Moment haben, bedingt, dass man auch mal etwas traurigere Lieder spielen kann.“ Dann spielt er „Help Me“ von Johnny Cash. Er singt das so, wie ein Engländer sich einen Deutschen vorstellt, der Englisch singt. Für den nächsten Tag kündigt er etwas Fröhlicheres an.

28. März. Alfred trägt ein buntes Blumenhemd, einen bunten Hut, das Licht ist rot. Er erzählt vom Vulkan, der in Mexiko ausgebrochen ist, dann spielt er den „Popocatépetl-Twist“ von Caterina Valente. Zum Abschied sagt er: „Bis morgen, bleibt gesund.“

30. März. Alfred will die Kamera umschwenken lassen, das aber klappt nicht. Er muss die Übertragung erneut beginnen. Zum ersten Mal spielt er mehrere Lieder, Bee Gees, The Mamas & The Papas. Als er bei „Ob-La-Di, Ob-La-Da“ den Songtext umblättert, wird’s kniffelig. Zum Schluss spielt er „En unserem Veedel“ von den Bläck Fööss. Das unterbricht er und beginnt erneut, weil das Licht nicht stimmt. Nase putzen muss er auch. Heuschnupfen.

Alfred verfolgt keinen großen Plan, als er sich am letzten Donnerstag im März zum ersten Mal mit seiner Lieblingsgitarre, eine rote Akustikgitarre von Fender, an den Schreibtisch im Keller setzt. Im Keller probt er auch und nimmt auf. Mehrere Gitarren, Schlagzeug, Lautsprecher, Bildschirme, Mischpult stehen dort. An der Wand hängt ein Schild: „Bitte während des Auftritts nicht an dem Gitarristen schlecken.“ Er hat bloß die Konzerte von anderen Hobbymusikern im Internet gesehen und gedacht: Das kann ich auch. Am späten Abend startet er seine Live-Übertragung auf Facebook. „Ich bin der Alfred Bohnen aus Hüls und ich möchte euch auch mein kleines Liedchen spielen.“ Dann trägt er den Song „You‘re My Best Friend“ vor, in dem der amerikanische Countrymusiker Don Williams die Beziehung zu seiner Frau besingt. Da ist vom Brot die Rede, wenn er hungrig ist. Vom Schutz, wenn die Stürme wehen, vom Anker im Ozean des Lebens. „But most of all you‘re my best friend.“ Der Auftritt dauert nur wenige Minuten, dann sagt Alfred: „Und morgen wieder ein kleines Liedchen, bis dann, tschüss.“

So hat er bis heute weitergemacht, jeden Tag. Am Montag absolvierte er seinen 25. Auftritt. Doch schon nach ein paar Tagen befand er, dass ein Lied zu wenig ist. Da sind die Leute da, und schon ist es wieder vorbei. Nun spielt er jeden Tag vier bis fünf Songs, 20 Minuten, um 19.30 Uhr geht er live. Um 19.30 Uhr endet die „Aktuelle Stunde“ im WDR, mit der möchte er nicht konkurrieren.

1. April. Das Robert-Koch-Institut meldet 5453 Neuinfizierte und 149 weitere Tote. Alfred trägt ein schwarz-weiß-gestreiftes Hemd, sagt „Lange Rede, schöne Musik“ und spielt auf der E-Gitarre „Yesterday“ von den Beatles. Er sagt, die Welt sei eigentlich wunderschön, auch wenn die „im Moment scheiße ist, mit dem ganzen Blödsinn da.“ Was man da mache? „Man singt ein Lied.“ Dann spielt er „What A Wonderful World“ von Louis Armstrong.

3. April. Alfred trägt ein kurzärmeliges Hemd mit Blumen, „weil ein Sommerwochenende kommen soll“ und hofft auf eine gute Internetverbindung. Am Tag zuvor ist die Leitung zusammengebrochen. Bei dem Versuch, Creedence Clearwater Revival auszusprechen, verschluckt er sich fast. Bei „Make You Feel My Love“ von Bob Dylan macht er mit dem Mund ein Geräusch, das einer Trompete nahekommt. „Und wie immer sage ich: Bleibt gesund.“

5. April. Bei „Here Comes The Sun“ von den Beatles, das sich Ella Müller aus St. Tönis gewünscht hat, bricht er ab und fängt noch mal von vorn an. Er erklärt, er habe einfach die zweite Textseite nicht hingelegt.

Der Anfang hat es immer ein wenig in sich, technische Probleme sind zur Routine geworden. Bringt er das Handy so an, dass er auf dem Display kontrollieren kann, welcher Ausschnitt von ihm zu sehen ist, dann ist das Bild spiegelverkehrt. Dreht er die Kamera auf die andere Seite, sieht der Zuschauer das Bild zwar korrekt, dafür kann Alfred den Ausschnitt nicht mehr kontrollieren und muss auf die Facebook-Übertragung auf seinem Computerbildschirm schauen. Doch die hat knapp 20 Sekunden Verzögerung. Wenn er dann beginnt, schaut er kurz hoch, als wäre da eine höhere Macht. Aber es ist bloß die Uhr, die an der Wand hängt. Nach der Verabschiedung klebt er ein Stück Papier auf die Handykamera. „Jetzt bekommt ihr wieder die Briefmarke aufs Auge gedrückt“, sagt er dann.

Bereits kurz nach dem Konzert beginnt er, die Songs für den nächsten Tag zusammenzustellen. Seine Zeit sind die 60er, die Beatles vor allem, aber er erfüllt auch Zuschauerwünsche. Dann druckt er die Texte aus, schreibt Anmerkungen über die Zeilen, Noten, manchmal was zur Aussprache. Man sieht ihn bei den Konzerten blättern. Viele Songs sind neu für ihn. Am manchen Tagen geht er erst um 3 Uhr schlafen. Eine Stunde vorm Konzert sitzt er dann wieder unten am Schreibtisch. Bald geht das Adrenalin hoch.

Auf dem Bildschirm kann er sehen, wer und wie viele Menschen ihm zuschauen. Es ist meist eine einstellige Zahl, doch man kann sich die Konzerte auch im Archiv ansehen, da kommt er pro Auftritt auf mehrere Hundert Aufrufe. Es stört ihn nicht, dass ihm nicht mehr Leute zuschauen, sagt er. Aber denen will er Beständigkeit geben. Deshalb tritt er täglich auf. Er weiß, dass Menschen seine Konzerte zusammen beim Essen schauen. „Die Leute sind froh, wenn Sie ein Ritual haben.“ Solange Alfred aus Hüls singt, steht die Welt noch. „Danke, dass du in der Krise eine beständige Größe bist“, kommentierte mal jemand.

7. April. Das Robert-Koch-Institut meldet 3834 Neuinfizierte und 173 weitere Tote. Alfred trägt eine braune Lockenperücke über dem schütteren Haar. „Habt ihr auch das Problem mit dem Frisör?“ Nach „Jackson“ von Johnny Cash und June Carter putzt er sich wieder die Nase und trinkt einen Schluck Cola, „gutes deutsches Tafelwasser.“ Nach einem Titel von Bernhard Brink sagt er: „I love you, alle Zuschauer... alle.“

12. April. Alfred mit schwarzem Cowboyhut und schwarzem Hemd. Noch immer Heuschnupfen. Seine Frau hat ihm die wenigen Haare, die er noch hatte, abgeschnitten, nun trägt er Glatze. So ganz zufrieden ist er damit nicht, er widmet ihr den Song „Küssen verboten“ von den Prinzen.

13. April. Der Auftritt beginnt acht Minuten zu spät. „Die Technik hatte mir einige Steine in den Weg gelegt“, sagt Alfred. „Fand ich gar nicht so gut jetzt.“ Gute Nachricht für seine Frau: „Heute darf wieder geküsst werden.“ Er erfüllt einen Hörerwunsch, „Fall nicht ins Klo, mein kleiner Freund“ von Mike Krüger. Danach kündigt er „Imädschen“ von John Lennon an.

Alfred hat in seinem Leben keine Stunde Englischunterricht gehabt. Er hat meist keine Ahnung, was er da singt. Die Volksschule beendete er mit 14, machte danach eine Ausbildung, landete im Büro bei Thyssen-Krupp. Als Jugendlicher schenken ihm seine Eltern eine Akustikgitarre. Sie legen ihm keine Steine in den Weg, unterstützen ihn aber auch nicht. Er besucht die Musikschule. Erst am Ende zeigt ihm der Lehrer drei Akkorde. Es stellt sich heraus, dass er mit ihnen sehr weit kommt. In einer Gaststätte soll er was auf einer Familienfeier spielen, dabei kann er nur den Anfang zweier Songs. „Da war ich der König.“ Kaum hat er die erste E-Gitarre, gründet er eine Band, doch ihr ist nur ein kurzes Leben beschieden. Er macht fortan häufig allein Musik. Meist covert er, aber einmal reicht er ein eigenes Lied bei einem Wettbewerb der Bravo ein. Er bekommt eine Absage und das Tonband zurück, von dem er sagt, dass es sehr weit gelaufen war. Er schwört, dass er kurz später ein ähnliches Lied hört. Er macht immer weiter. „Wenn man einmal Musik macht und beherrscht, dann ist Musik in einem drin.“ Seinen Lebensunterhalt will er nie damit verdienen. Berufsmusiker werden, wenn man schon einen Beruf hat? Das Risiko ist ihm zu hoch.

16. April. Das Robert-Koch-Institut meldet 2866 Neuinfizierte und 315 weitere Tote. Das Bild steht auf dem Kopf. „Immer diese Überraschungen“, sagt Alfred. Er dreht das Handy um. Er hebt ein Weinglas, nimmt einen Schluck. Dann spielt er „Drink doch eine met“ von den Bläck Fööss.

17. April. Alfred sagt: „Ich hab irgendwie einen Frosch im Hals.“ Er nimmt noch einen Schluck. „Ich glaub, wir gehen alle besoffen aus der Runde raus.“ Er spielt „The Girl Of My Best Friend“ von Elvis, er spielt „I Will“ von den Beatles, er setzt sich eine Seemannsmütze auf und singt „Junge, komm bald wieder“ von Freddy Quinn. Nach dem letzten Song sagt er: „Wenn ihr nicht fröhlich seid, werdet fröhlich.“

Auf seinen Zetteln hat Alfred mit Pfeilen markiert, wo er mit der Stimme unten bleiben muss. Früher wäre es für ihn kein Problem gewesen, höher zu gehen. Doch im vergangenen Jahr stellten die Ärzte fest, dass seine Schilddrüse viel zu groß geworden war, eine Operation unumgänglich. Hinter der Schilddrüse liegen die Nerven der Stimmbänder. Seine Engelsstimme, wie er sie selbst nennt, stand bei der Operation auf dem Spiel. Nach dem Eingriff im September sollte er sie sechs Wochen lang schonen, selbstverständlich hielt er sich nicht daran. Zunächst schien alles gut, doch dann merkte er, dass er nicht mehr so weit nach oben kam, wie er es gewohnt war. Er ging zu einem Logopäden, doch seit Corona fallen die Therapiestunden aus.

Einmal stand er nur noch auf der Bühne seit der Operation, beim Weihnachtssingen in Hüls. Danach strich das Virus alle Konzerte. Zum Beispiel die mit einem Freund, mit dem er unter dem Namen „Rattle Sixties“ Coversongs spielt. Auch auf dem Sommerfest eines Duisburger Pflegeheims wird er nicht auftreten können, obwohl er das jedes Jahr macht. Er hat den Bewohnern ein paar Videos aufgenommen, in denen er Musik macht. Nun gehen die Mitarbeiter dort mit Tablet von Bett zu Bett.

Sechs Monate nach der Operation sollte sich Alfreds Stimme normalisiert haben, hieß es. Die sechs Monate sind nun um. Das Internet ist gerade die einzige Bühne, auf der er zeigen kann, wozu er noch oder wieder in der Lage ist. Solange Alfred aus Hüls singt, steht die Welt noch. Seine auch.

Die Konzerte von Alfred Bohnen werden jeden Abend ab 19.30 Uhr live auf facebook.com/AlfredPaulBohnen übertragen. Im Anschluss werden sie dort auch archiviert.

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