Zeit als schönstes Geschenk Helga Krall schenkt Leseausflüge für die Phantasie

Materielle Geschenke stehen heute hoch im Kurs. Doch Zuwendung kommt bei Kindern besonders gut an. Das Prinzip der Krefelder Leselernhelfer.

 Helga Krall liest „ihren“ Kindern nicht vor, sondern hört ihnen zu: „Die Kinder genießen es, dass man sich eine Dreiviertelstunde nur mit ihnen beschäftigt.“

Helga Krall liest „ihren“ Kindern nicht vor, sondern hört ihnen zu: „Die Kinder genießen es, dass man sich eine Dreiviertelstunde nur mit ihnen beschäftigt.“

Foto: A. Bischof/Andreas Bischof

„Aus Druckerschwärze entstehen Dinge, Menschen, Geister und Götter, die man sonst nicht sehen könnte.“ Besser als mit dem Zitat von Erich Kästner zur Entfaltung der kindlichen Phantasie durch Bücher könnte man wohl nicht zusammenfassen, was Helga Krall für ihr Ehrenamt motiviert.

Sie ist Leselernhelferin beim Verein Mentor Krefeld und macht Kindern damit ein viel wichtigeres Geschenk als ihnen nur eine Grundkompetenz für das spätere Leben weiterzugeben. „Die Kinder genießen es, dass man sich eine Dreiviertelstunde nur mit ihnen beschäftigt. Kürzlich hat mich sogar mal ein Kind gefragt: ,Wieso kommst Du denn extra für mich?‘“

Sehr wahrscheinlich hat das Eine aber auch genau mit dem Anderen zu tun. „Wir hören den Kindern zu, wir lesen ihnen nicht vor“, erläutert Helga Krall das Prinzip des Vereins, zu dem nicht nur die individuelle, sondern auch die langfristige Betreuung gehört. „Das heißt aber nicht, dass ich einem Kind nicht auch mal ein Stück vorlesen würde“, sagt die ehemalige, langjährige Bibliothekarin der Krefelder Mediothek. Ein „Pate“ soll einem Kind über eine Zeit von mindestens einem Jahr zur Seite stehen. Oder länger.

So hat die 68-jährige Krefelderin ein Mädchen drei Jahre in der Grundschule begleitet, das im Sommer auf die weiterführende Schule gegangen ist. „Da sind bei uns allen ein paar Tränen geflossen“, sagt Helga Krall, die sich besonders darüber freute, dass am Ende der wöchentlichen Besuche nicht nur eine Nähe entstanden ist, sondern auch die Idee umgesetzt werden konnte: „Zum Abschied hat sie mir gesagt: Ich werde jetzt weiterlesen, ich habe schon ein paar Bücher zu Hause. Da geht einem das Herz auf.“

Dabei habe es auch bei diesem Kind angefangen, wie es häufig anfängt – mit dem Fingerlesen. Der Zeigefinger wandert dabei von Buchstabe zu Buchstabe, von Wort zu Wort über die Seite. Am erfolgreichen Ende steht dann das Flüssiglesen. Nicht immer hört sich das aber so flüssig an, wie es der Begriff verheißt. Dennoch führen schon die kleinen Erfolge laut Helga Krall zur Leidenschaft für das Buch oder das Thema: „Wenn das Lesen funktioniert, kommt der Spaß auch an der Geschichte.“ Und nicht nur das: „Mehrere Lehrerinnen und Lehrer haben beobachtet, dass die Kinder durch die positive Unterstützung der Lesementoren mehr Selbstvertrauen entwickelt haben, sich im Unterricht mehr beteiligen und sich insgesamt ihr Sozialverhalten verbessert hat.“

Helga Krall: Viele Kinder haben überhaupt keine Bücher mehr

Zumeist gewinnt Helga Krall den Eindruck, dass die Kinder überhaupt keine Bücher mehr besitzen, Mütter und Väter keine Zeit haben oder die Eltern der Kinder kein oder kaum Deutsch sprechen. Dennoch hätten die Kinder oft ein grundsätzliches Interesse, sich neue Welten zu erschließen. Prinzessinnen und Einhörner hatten es beispielsweise dem Mädchen angetan. „Sie kannte die Figuren aber zumeist nur aus dem Fernsehen.“ Immerhin.

Aus dem ersten Kontakt, der mit einer Kennenlernphase auch zu den Hobbys beginnt, wird schnell ein engeres Verhältnis. „Manchmal entstehen sogar Freundschaften“, schiebt die ehemalige Bibliothekarin nach. Aber eigentlich sei der private Kontakt nicht gewollt. Deshalb, und auch aus anderen Gründen, finden die „Lese-Stunden“ in der Schule statt. „Wir sitzen in der Schulbibliothek, dort ist ja auch eine nette Atmosphäre.“ Zudem könnten sich die Schüler dort ein Buch aussuchen.

Nicht nur Kinder aus anderen Kulturen müssen an das Lesen herangeführt werden. Und häufig hätten viele schon ein Problem damit, einfache Wörter oder schlichte Redewendungen nicht zu kennen. „Ein Schüler wusste kürzlich nicht, was es bedeutet, wenn man sagt: ,Das Kind ist moppelig‘, gibt die 68-Jährige ein Beispiel.

Nicht immer wird übrigens gelesen in der Dreiviertelstunde. Wichtig ist Helga Krall, dass sie schnell Erfolgserlebnisse haben. Und die kommen häufig erst mal nicht über das Lesen, zumal es für Kinder, die sonst nie lesen, sehr anstrengend sei, 45 Minuten am Stück zu lesen. So werden beispielsweise Pyramidensätze gebildet: Lena spielt, Lena spielt Fußball, Lena spielt Fußball auf dem Rasen… Immer geht es dabei um Worte. Und manchmal tatsächlich um Fußball. „Da kenne ich mich ganz gut aus“, sagt Helga Krall. Ein Junge aus Syrien wollte ihr das erst nicht so recht abnehmen. „Er war sehr erstaunt, als ich ihm einiges über Borussia Mönchengladbach erklären konnte.“

Helga Krall hat 40 Jahre lang in der Krefelder Mediothek gearbeitet. Ihr ganzes Leben hat sich um Bücher gedreht. „Das Lesen ist meine Leidenschaft. Ich möchte auch den Kindern ermöglichen, dass sie in eine andere Welt eintauchen können, um ihre Phantasie anzuregen und zu fördern. Das kann kein Film. Und ich möchte ihnen vermitteln, das Lesen spannend sein kann. Auch wenn es am Anfang für sie vielleicht eine Qual ist.“

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