Aus Uerdingen nach München Gert Rabanus erzählt die Geschichte seines langen Lebens

Krefeld · Der Uerdinger Gert Rabanus ist 96 Jahre alt. In der WZ erzählt er über Kindheit, Krieg und Leo Kirch.

 Gert Rabanus arbeitet im Jahr 1961 für Leo Kirch und soll ihm helfen, ein Imperium aufzubauen.

Gert Rabanus arbeitet im Jahr 1961 für Leo Kirch und soll ihm helfen, ein Imperium aufzubauen.

Foto: Gert Rabanus

Einst war er Lichtdouble großer Filmstars, dann der engste Mitarbeiter von Leo Kirch und später eine Instanz im deutschen Film-Business, wenn es um die deutsche Synchronisation von internationalen Spielfilmproduktionen ging. Gert Rabanus, Jahrgang 1923, blickt auf eine turbulente Lebensgeschichte zurück.

Im April hatte er Geburtstag. Gleichaltrige Gäste und Gratulanten, sie gibt es so gut wie nicht mehr. Kein Wunder, er wurde ja auch nicht 26, sondern 96 Jahre alt. Aber Gert Rabanus ist ein gelassener Mann: Er sagt, er lebe gern und freue sich über jeden Tag, der ihm geschenkt ist, etwa, wenn er von seinem Balkon seiner Mietwohnung im vierten Stock in München-Schwabing aus über die blühenden Baumwipfel der Kastanien hinüber zum Englischen Garten blickt. Aber es ist ziemlich einsam, stellt er fest, wenn man so alt ist. Und seit vor ein paar Monaten auch noch sein drei Jahre älterer Bruder gestorben ist, noch ein bisschen mehr.

Gert Rabanus ist einer, der viel erlebt hat, es aber in all den langen Jahren seines Lebens kaum einmal erzählt hat. Warum? Er hält seine Geschichte für nicht so wichtig.

„Gert, das geht jetzt nicht mehr“, sagt der Jugendwart

Rabanus wurde am 25. April 1923 geboren. „Nach Christus!“ fügt er lachend hinzu. Wohlbehütet aufgewachsen ist er in Uerdingen am Niederrhein, bürgerliches Bildungsmilieu, der Vater Botaniker, die Mutter Krankenschwester. Er geht hier zur Schule, macht Abitur, spielt bis zur B-Jugend als Torwart beim FC Uerdingen 05. Aber seine Karriere endet schon 1939. Der Jugendwart bedeutet ihm von einem auf den anderen Tag, er dürfe nun nicht mehr zum Training kommen. „Gert, das geht jetzt nicht mehr!“ Der Grund: Er ist der einzige, der nicht in der Hitlerjugend ist. Und: Seine Mutter ist Halbjüdin.

Seine Familie hatte Glück, denn ein couragierter Blockwart und der Chef des Vaters, der damalige Direktor der IG Farben Ulrich Haberland, verhindern, dass seiner Mutter in all den Jahren des NS-Regimes etwas zustoßen soll. Rabanus macht Abitur in Uerdingen, spielt im Collegium Musicum der Stadt Krefeld Violine. Ganz passabel, meint er heute – und wer ihn kennt, weiß, dass er mal wieder stark untertreibt.

Am 15. April 1942 liegt der Einberufungsbefehl zum „Kommiss“ im Briefkasten. Mitten in die Proben platzt der hinein. Georg Philip Telemann studieren sie damals ein. Rabanus erzählt dem Dirigenten, dass er zur Grundausbildung nach Hannover müsse. Der guckt ihn nur an: „Mensch, Gert, wir brauchen Dich doch!“ Rabanus weiß nicht, dass sein Orchesterleiter einen Brief an den Kommandeur der Ausbildungsbatterie geschickt hat. Der Brief hat den Zweck, ihn vom Militärdienst freizustellen. Doch der Schuss geht nach hinten los.

Zehn Tage später, an seinem 19. Geburtstag, tritt er mit 250 Rekruten bei Nieselregen morgens um sechs Uhr zum Appell im Kasernenhof in Hannover-Bothfeld an. Er hat es noch im Ohr, wie der Kommandant, ein knurriger Oberleutnant, unter kaum unterdrücktem Vergnügen brüllt: „Hier ist einer unter uns, der will Oper spielen!“. Seine Kameraden brechen in schallendes Gelächter aus. Als einige der Rekruten später für die Ostfront eingeteilt werden, steht der Telemann-Violonist Gert Rabanus an Position 1 auf der Liste. Schon am nächsten Tag wird er abkommandiert.

Er besteigt am 20. Juli 1942 den Zug nach Russland. Das muss ziemlich genau der Tag gewesen sein, sagt er heute, an dem seine Tante, sein Onke und seine beide Vettern, die in Karlsruhe lebten, nach Auschwitz deportiert wurden. Der Zug hält am Wolchow, irgendwo zwischen Leningrad und Nowgorod. Ostfront. Geschützstand. Zwei-Zentimeter-Flak im Erdeinsatz. Flieger, Panzer, feindliche Infanterie. Ostfront. Nicht immer, aber oft genug in vorderster Linie. Er hat alles gesehen: Einen Kamerad, mit dem er gerade noch ein Wort und dann die Stellung gewechselt hat und der Sekunden später von der Kugel eines russischen Schützen tödlich getroffen wird.

 1943: In den Schrecken des Krieges.

1943: In den Schrecken des Krieges.

Foto: Gert Rabanus

Irgendwo in Kurland war es, wo er am 8. Mai 1945 auf russische Soldaten stößt. Er dreht sich um, rennt los, flüchtet über einen Acker in einen Wald, hört noch die Schüsse der Scharfschützen, die knapp über seinen Kopf hinweg pfeifen, er entkommt, trifft auf andere Soldaten seiner Einheit, sie verstecken sich, sie chartern einen alten PKW, wollen nach Schweden durchbrennen, das Auto bleibt nach hundert Metern liegen. Sie geben den Plan zur Flucht auf, kommen in ein Sammellager – und werden alle zusammen nur zwei Tage später den Russen übergeben.

Eisige Kälte, Zwangsarbeit
und immer dieser Hunger

Er gerät in Kriegsgefangenschaft in der Nähe von Liebau (Liepaja), ein Strom Tausender deutscher Kriegsgefangener setzt sich bald in Richtung des zweihundert Kilometer entfernten Riga in Bewegung. Im September kommt er in ein anderes Lager zwischen Leningrad und Narva am finnischen Meerbusen, zuletzt nach Valga (Walk) an der lettisch-estischen Grenze. Eisige Kälte, Zwangsarbeit und immer Hunger. Er ist krank, hat Durchfall, Darmentzündung, Hungertyphus.

In der Krankenbaracke liegt er im Fieber zwischen fauligen Strohsäcken und wird immer schwächer. Die meisten um ihn herum sterben, er überlebt irgendwie. „Irgendwann“, erinnert er sich, „haben sie alle entlassen, die noch stehen konnten.“ Er weiß nicht wie, aber er konnte noch stehen. Es ist Ende September 1946. Gert Rabanus, 22 Jahre alt, taumelt aus dem Lazarett, aus der Kriegsgefangenschaft. Über Warschau, Frankfurt an der Oder, Erfurt, Friedland nach Hause. Irgendwann steht er in Uerdingen vor seinem Elternhaus – mehr tot als lebendig. Zehn Wochen Krankenhaus folgen, bis er sich endlich erholt hat. Er überlebt. Ob er traumatisiert sei? „Nein.“ „Traumatisiert?“, ruft er dann lachend, als könne er mit dem Wort nichts anfangen, „Das sind doch nur amerikanische Soldaten im Spielfilm!“ Später räumt er ein, doch, ein paar Jahre habe er schon gebraucht, um über alles hinwegzukommen. Aber schon damals im Krankenhaus habe er seine Geige wieder ausgepackt und an Weihnachten das „Ave Maria“ von Gounod vor den Patienten und Schwestern in der Krankenhaus-Kapelle gespielt.

Im April 1947 reist er nach Göttingen. Im Zug trifft er auf einen früheren Mitspieler aus seiner Fußballmannschaft von damals. Der schaut ihn verwundert an und sagt nur: „Man soll es nicht glauben, wer alles noch am Leben ist!“ Diese Begegnung, so banal sie auch sein mag, sie ist für ihn wie ein Einschnitt. Für ihn ist, in diesem Moment, mit diesem Satz der Krieg wirklich vorbei. Er schreibt sich für Germanistik und Musikwissenschaft ein. 1957 promoviert er bei Klaus Ziegler über Goethe.

In München wird er
Lichtdouble für Kirk Douglas

Im selben Jahr noch geht er nach München, bezieht ein Zimmer in Schwabing. Ohne irgendeinen Plan. Er lernt den Filmproduzenten Helmut Ringelmann kennen, kommt durch ihn an Komparsenjobs. Anfangs 30 Mark am Tag, später 50. Er wird Lichtdouble von Kirk Douglas in dem Spielfilm „Wege zum Ruhm“ von Stanley Kubrick, schlägt sich durch, arbeitet bald als Werbetexter, zwei Jahre als Lektor beim Fischer-Verlag, dann bei Kindler in München. 1961 engagiert ihn Leo Kirch als seinen engsten Mitarbeiter, Rabanus soll ihm helfen, sein Imperium aufzubauen, doch die beiden verstehen sich nicht. Er wechselt 1963 in den Constantin-Filmverleih. Er arbeitet als Dialogregisseur, als Synchronregisseur – bis zu seinem 85. Lebensjahr. „Ich könnte das heute noch“, meint er, „…aber das muss ja nicht sein!“ 1974 gründet er sein eigenes Unternehmen, die „Lingua-Film“, die viele internationale Spielfilme für das deutsche Kinopublikum synchronisiert hat – und die es heute nicht mehr gibt.

Verheiratet war er mit einer Schauspielerin, mit Ilse Künkele, die er noch in Göttingen 1954 kennengelernt hat. Vier Jahre später feiern sie Hochzeit. 1959 kommt ihr Sohn auf die Welt, sie bauen ein Häuschen. Aber die Ehe zerbricht, er zieht irgendwann aus, seine Frau stirbt 1992 im Alter von 67 Jahren. Seit 33 Jahren lebt er nun schon allein – mitten in München. Wie es ihm ginge? Er sagt, er könne nicht klagen, er sei ein rundum zufriedener Mensch.

2017: Jetzt sind die Haare grau.

2017: Jetzt sind die Haare grau.

Foto: Gert Rabanus

Was sein Leben heute mit 96 Jahren ausmacht? Der Literatur, dem Film, der Musik ist er verbunden geblieben — und selbstverständlich dem Fußball, dem KFC Uerdingen. Der Club, in dem er als Junge nicht mehr mitspielen durfte. Mit einem Leuchten in den Augen erinnert er sich an das Jahr 1985, als die Uerdinger im Berliner Olympiastadion sensationell die Bayern schlugen und deutscher Pokalsieger wurden.

Und die Musik? Geige spielt er schon lange nicht mehr. Aber er ist noch immer ein großer Musikliebhaber und -kenner, jahrzehntelang war er ein passionierter Konzertbesucher. Inzwischen hat er sein Abonnement bei der Bayerischen Staatsphilharmonie aber abgegeben. Es ist ihm zu viel geworden, mit dem Rollator ins Konzerthaus zu gehen, und abends ist er oft viel zu müde. Seine Kreise sind enger geworden. Aber einmal am Tag dreht er noch immer seine große Runde. Durch den Englischen Garten, quasi vor der Haustür. „Manchmal, wenn die Sonne scheint, setze ich mich in den Biergarten, bestelle ein Weißbier — und kehre dann beschwingt nach Hause zurück.“ Es sei ihm gegönnt.

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