Ein Spaziergang durch das Hülser Bruch Von drauß‘ vom Walde

Krefeld · Rausgehen statt Ausgehen — wer auf dem Pottbäckerwanderweg durch das Hülser Bruch spaziert, kann schon mal einen halben Tag vergessen, was die Welt gerade beschäftigt.

 Der Pottbäckerwanderweg ist nicht gut ausgeschildert, im Zweifel hilft es, auf dem Berg dem Heinrich-Mertens-Weg zu folgen, der mit Holzschildern gekennzeichnet ist.

Der Pottbäckerwanderweg ist nicht gut ausgeschildert, im Zweifel hilft es, auf dem Berg dem Heinrich-Mertens-Weg zu folgen, der mit Holzschildern gekennzeichnet ist.

Foto: ja/Andeas Endemann

Eine Brille liegt auf der Holzbank im Wald, die Bügel ordnungsgemäß eingeklappt, und es ist völlig klar, was hier geschehen sein muss. Ein Brillenträger setzte sich auf die Bank, sah auf die von Gras bewachsene Lichtung, sah die Eichen und Fichten, sein Herz kam zur Ruhe. Er legte die Brille ab, lehnte sich zurück, schloss die Augen, atmete tief durch und fiel in einen kurzen, aber erholsamen Schlaf. Dann weckte ihn der Specht. Er stand auf, streckte sich einmal und setzte seinen Weg durch das Hülser Bruch fort. Ein Brillenträger war er nun nicht mehr.

Was kann man schon machen in diesen Tagen, wenn man zuhause eingeht und Bars, Fußballstadien und Ikea geschlossen haben? Rausgehen statt Ausgehen, auf die Dinge einlassen, die nichts kosten, weil sie schon immer da waren. Auf einen Spaziergang durch das Hülser Bruch zum Beispiel, und wenn es ein sehr langer Spaziergang werden soll im Sinne von „Ich bin dann mal den halben Tag weg“, dann empfiehlt sich der Pottbäckerwanderweg. Der führt über 13 Kilometer von Hüls auf den Hülser Berg und wieder zurück, gekennzeichnet durch eine Seerose — leider nicht durchgängig (siehe Info). Benannt ist der Weg nach den Pottbäckern von Hüls, die keine Bäcker waren, sondern Töpfer, die sich den Ton aus Kuhlen im Hülser Bruch holten.

Der Wald gehört zu den wenigen Orten, aus denen man immer glücklicher herauskommt, als man hineingeht, und wenn man vom Parkplatz am Hölschen Dyk losläuft, ist man sehr schnell glücklich. Das klingt wie doofes Großstädter-Gelaber, mal wieder im Wald nach sieben Monaten und gleich wollen sie eine Hütte im Dickicht errichten, und es ist doofes Großstädter-Gelaber, das stimmt. Schon vor dem Wald sind da die Kopfweiden, der Baum gewordene Niederrhein. Sie schlagen bereits wieder aus, diese gedrungenen, knorrigen Gewächse, die als Mensch wahrscheinlich sehr starke Zwerge wären, die niemals umfallen. Stehen da vermutlich schon Jahrzehnte und interessieren sich nicht dafür, was die Menschheit gerade plagt.

Dass es überhaupt so was wie Straßen gibt, auf denen sogar Autos fahren, ist schnell vergessen. Ist Deutschland nicht ein dicht besiedeltes Land? Okay, Menschen sind schon da, aber auch an einem Freitag verhalten sie sich momentan wie an einem Sonntag. Sie spazieren, fahren Rad, walken Nordic. Die Hunde sind angeleint, müssen angeleint sein, weil das Hülser Bruch ein Naturschutzgebiet ist, 430 Hektar, das größte in Krefeld. Es ist also die erträgliche Version von Mensch, die in diesen Tagen durch die Wälder läuft, so auf zwei Metern Abstand. Vielleicht macht das auch der Wald.

Es sind auch nicht so viele Menschen, dass sie alle Holzbänke besetzen, was aber auch an der hohen Zahl von Bänken liegt. Auf den besten von ihnen sind auf der Rückenlehne Sprüche eingraviert, die ewige Gültigkeit beanspruchen. „Die Rotbuche wartet 30 Jahre lang auf ihren Stammhalter“. Das macht demütig. Wir haben schon nach einer Woche Kontaktsperre die Nase voll, aber die Rotbuche wartet 30 Jahre. Die Bank steht neben dem Wildgehege am Rande des Hülser Bergs. Jetzt, wo man nicht mehr so abgelenkt ist außer durchs Ping von Whatsapp, sind Hirsche und Wildschweine ja schon irgendwie was Schönes. Außerdem sind Tiere die einzigen Fremden, denen man sich noch relativ gefahrlos nähern kann. Klar, in acht Wochen werden die meisten wieder achtlos daran vorbeilaufen, aber nun hat es etwas Beruhigendes, den Tieren dabei zuzusehen, wie sie unbeeindruckt ihr Leben fortsetzen. Dem Wald als solchem geht es klimawandelbedingt nicht richtig gut, aber gerade scheint hier die Welt noch in Ordnung zu sein.

Der Hülser Berg ist die höchste natürliche Erhebung Krefelds, aber die 63 Meter machen nur begrenzt Mühe. Überhaupt geht es nur an dieser einen Stelle kurz vor der Straße „Hohlweg“ einmal rechts hoch, nach zwei Minuten ist die Kletterei erledigt. Ansonsten kann man die Strecke auch locker mit dem Kinderwagen bewältigen. Im Gegensatz zum Inrather Berg oder dem Kapuzinerberg ist der Hülser Berg nicht durch Bauschutt oder Hausmüll entstanden, wobei, irgendwie ja schon, nur sehr viel früher. Die Gletscher der Saale-Eiszeit brachten vor circa 150 000 Jahren eine Menge Geröll mit. Die Gletscher tauten ab, das Geröll blieb und bildet seitdem den Niederrheinischen Höhenzug, eine Hügelkette, die sich bis nach Nijmwegen zieht. Eine lokale Sage bietet eine etwas buntere Erklärung. Ein Riese holte aus dem Harz eine Schubkarre voll Sand und Lehm. Er stolperte in einem dunklen Urwald, die Schubkarre kippte um, fertig war der Hülser Berg.

Die Bergschänke auf dem so genannten Gipfel hat geschlossen, der Johannesturm ist gesperrt, wenn auch ohne großen Ehrgeiz, der Spielplatz ebenfalls. Der Waldlehrpfad hingegen hat noch geöffnet und erklärt auf bunten Schautafeln, was man in Wirklichkeit doch noch nicht gewusst hat. Dass es Bäume mit Flachwurzelsystem (Fichte) gibt vielleicht noch, aber Bäume mit Pfahlwurzelsystem (Kiefer, Tanne, Eiche) und Herzwurzelsystem (Buche, Birke, Lärche)? Auf der Tafel „Der Baum, ein Raum“ ist schön ungelenk von den „Wohlfahrtswirkungen eines Baumes“ die Rede. Auf der Illustration sind in einem Ausmaß Tiere in einem Baum zu sehen, dass er eigentlich umfallen müsste. Die meisten davon hat man noch nie gesehen.

Nach dem Abstieg wird es noch ein wenig schöner, nach der Überquerung der Kreisstraße, die hier Steeger Dyk heißt. Wie plötzlich sogar schon diese gar nicht stark befahrene Straße stört — Zivilisation, wie hat man sie bisher ertragen? — und wie schnell der Lärm danach wieder verschwunden ist, wenn man durchs Grün geht, erst an Feldern vorbei, dann zwischen den Eichen und Buchen. Selbstverständlich fließt da auch ein Bächlein, der Sankertgraben, und wie kann einer sich da nicht auf eine Bank setzen und seine Brille vergessen?

Ohne einen Meter Höhenunterschied verläuft der Pottbäckerwanderweg weiter auf dem nächsten Dyk, dem Plankerdyk, eine breite Piste durch den Wald. Auf „Dyk“, also Deich, enden deshalb so viele Straßen, weil hier vor Jahrhunderten noch echter Sumpf war und die aufgeschütteten Dämme die einzige Möglichkeit waren, sicher voranzukommen. Der Blick nach vorne reicht beinahe endlos, schnurgerade, wie so ein Dyk eben ist. Es kann ja wirklich alles so einfach sein, die Wohlfahrtswirkungen der Bäume, und links am anderen Ende der Wiese, das sind Schafe, oder? Mit den Füßen geht man durch den Wald, mit den Gedanken durch die Gegenwart. Was sind schon Wochen, wenn es auch Jahrhunderte und Jahrhunderttausende gibt?

Völlig überraschend tauchen am Horizont wieder die ersten Spuren von Hüls auf. Nichts gegen Hüls, aber vielleicht doch noch mal umkehren, vom Weg abkommen, eine Hütte bauen und abwarten, bis alles vorbei ist?

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