Das Wunder von der Grotenburg KFC-Zeugwart: "Wir lagen uns in den Armen — es war Wahnsinn"

Der heutige KFC-Zeugwart Erwin Günther ist stolz darauf, während des Jahrhundertspiels nicht das Stadion verlassen zu haben.

Das Wunder von der Grotenburg: KFC-Zeugwart: "Wir lagen uns in den Armen — es war Wahnsinn"
Foto: Dirk Jochmann

Krefeld. Stehplatzbereich Q, Block 14, letzte Treppenstufe — hier, so erzählt Erwin Günther, „haben mein Bruder, mein Vater und ich beim Spiel gegen Dynamo Dresden gestanden. Es war der Wahnsinn“, lächelt Günther auch 30 Jahre nach dem größten Fußballspiel aller Zeiten noch, als wäre es vergangenen Mittwoch gewesen.

Trotz der 0:2-Niederlage im Hinspiel gegen den amtierenden DDR-Pokalsieger zweifeln die Bayer-Anhänger nicht daran, dass ihr Team eine Chance besitzt, das Halbfinale im Pokal der Pokalsieger zu erreichen. Die Vorfreude ist groß. „Ich bin von der Arbeit aus direkt ins Stadion gefahren, wir waren um 18.30 Uhr vor Ort, um unseren Platz zu sichern“, erinnert sich der 58-jährige heutige Zeugwart des KFC zurück.

Während sein zwei Jahre älterer Bruder Norbert auch das Auswärtsspiel in Dresden als Verantwortlicher einer Busreise live vor Ort verfolgen konnte, musste Erwin Günther arbeiten. „Umso mehr habe ich mich natürlich auf das Heimspiel gefreut.“ Doch dieses beginnt mit einer mittelschweren Katastrophe für die Blau-Roten.

52 Sekunden nach Anpfiff trifft Ralf Minge per Kopf mitten in die „Uerdingen, Uerdingen“-Anfeuerungsrufe der Heimfans hinein zur frühen Führung der Gäste. „Das war ein Schock“, gibt Günther zu, ergänzt aber schnell, dass der Ausgleichstreffer durch Wolfgang Funkel ihm wieder Hoffnung gegeben hätte.

Doch dann schlägt Dynamo noch vor der Pause zweimal zu. „Als Rudi Bommer dann das Eigentor unterlaufen ist, war klar, dieses Spiel ist verloren“, erzählt Günther. „Keiner hat mehr einen Pfifferling auf einen Sieg, geschweige denn ein Weiterkommen von uns gesetzt.“

Pfiffe gibt es im mit 22 000 Zuschauern gefüllten Stadion dennoch nur wenige. „Die Leute waren enttäuscht. Klar, viele gingen dann auch nach Hause“, sagt Günther. Er aber bleibt.

„Ich habe doch für 90 Minuten bezahlt, da gehe ich doch nicht in der Halbzeit nach Hause — egal wie es steht“, sagt er heute voller Leidenschaft. Während seine Freunde in die Kneipe um die Ecke verschwinden, um das verloren geglaubte Spiel im Fernsehen zu verfolgen, bleibt die Familie Günther an ihrem Platz stehen und erlebt die spektakulärste Halbzeit in der Historie des Fußballs.

„Als das Tor vom alten Schäfer zum 4:3 fiel, schien alles möglich zu sein — und so war es dann ja auch“, sagt Günther.

Urplötzlich strömen auch einige der zur Halbzeit noch geflüchteten Besucher wieder in die Grotenburg. Als der eingewechselte Dietmar Klinger und Wolfgang Funkel auf 6:3 erhöhen, ist das Unvorstellbare wahr geworden: Der 1:5-Rückstand in Addition beider Ergebnisse war gedreht, der Vier-Tore-Rückstand aufgeholt, die Grotenburg wird zum Tollhaus.

„Wir lagen uns in den Armen, keiner hatte mehr daran geglaubt, und dann hält Vollack einen Ball sensationell“, erzählt Günther mit Funkeln in den Augen. Ein Funkeln, das man sonst nur von kleinen Kindern kennt, die an Weihnachten endlich ihre Geschenke auspacken dürfen.

Nach einem abgefangenen Einwurf kontern die Hausherren im eigenen Stadion, und erneut ist es Schäfer, der mit seinem zweiten Tor den 7:3-Endstand und damit das Wunder von der Grotenburg perfekt macht. Viele Fans kehren in Kneipen ein, Erwin Günther geht nach Hause.

„Wir konnten nicht mehr, alle haben sich so sehr gefreut, die Spieler waren aber einfach nur platt, sie hatten so viel geleistet, dass sie zum Teil auf den Rasen fielen, als der Schlusspfiff ertönte“, berichtet Günther. Während viele noch in den Kneipen einkehren, um diesen historischen Erfolg zu feiern, geht Günther wieder nach Hause.

„Ich musste am nächsten Tag wieder ganz normal arbeiten“, sagt er: „Aber am nächsten Tag habe ich es genossen, die Zeitungen zu lesen mit den ganzen Berichten.“ Dass er Gast bei einer einzigartigen Aufholjagd im deutschen Fußball war, wird ihm erst später bewusst und bekräftigt ihn in seinem Vorsatz, nie ein Spiel vor dem Abpfiff abzuschenken und das Stadion deshalb zu verlassen.

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