Inklusion bleibt auf der Strecke

Zu wenig Platz, Zeit und Personal: Eine Sonderpädagogin erzählt, wie die Arbeit sie und Kollegen an Grenzen bringt — auf Kosten der Schüler.

Inklusion bleibt auf der Strecke
Foto: A. Bischof

Fast vier Jahre nach dem Startschuss fürs Gemeinsame Lernen auch an Krefelds Schulen will die NRW-Landesregierung noch vor der Sommerpause einen Neustart für die Inklusion: Künftige Standards sollen unter anderem die Klassengrößen und die Anzahl der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf pro Klasse sowie den Personalschlüssel regeln — so die Pläne von NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) Ende Mai.

Ein neues Konzept für die Inklusion ist dringend notwendig, sagt auch Anja Rohde. Als einzige Sonderpädagogin am Uerdinger Gymnasium am Stadtpark stoße sie bei ihrer Arbeit inzwischen täglich an ihre Grenzen — „eigentlich hätte ich längst einen Brandbrief schreiben müssen“, sagt sie. Über zu große Klassen, viel zu wenig Platz und noch weniger Zeit, um die Schüler nach ihren individuellen Bedürfnissen bestmöglich zu fördern. Und die Förderschwerpunkte sind vielfältig: von der emotionalen und sozialen Entwicklung, über Sprache oder Lernen bis hin zur geistigen sowie körperlich-motorischen Entwicklung.

Anja Rohde, Sonderpädagogin am Gymnasium am Stadtpark über die Herausforderungen der Inklusion

„Zu Beginn war ich eine große Befürworterin, sogar eine Verfechterin der Inklusion“, sagt die Sonderpädagogin. Entsprechend euphorisch habe sie ihre Arbeit im Sommer 2015 mit der ersten Inklusionsklasse am Gymnasium am Stadtpark angefangen. Ein Fachlehrer und sie als Sonderpädagogin kamen damals auf eine Inklusionsklasse, darin neben Regelkindern drei Inklusionsschüler — „personell, aber auch materiell und finanziell waren das Idealbedingungen“, erinnert sich Anja Rohde.

Heute sieht das anders aus: Zum Schuljahr nach den Sommerferien starten an dem Uerdinger Gymnasium zwei neue Inklusionsklassen mit 22 Schülern pro Klasse, vier davon jeweils Kinder mit so genanntem „sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf“. Insgesamt 21 Inklusionskinder von Klasse fünf bis neun fördert die Sonderpädagogin ab dem kommenden Schuljahr. Gerade einmal fünf Unterrichtsstunden bleiben Rohde schon heute für eine Klasse — bei 30 Wochenstunden. „Wir machen das Beste daraus“, sagt sie. Das Kollegium sei sehr engagiert und unterstütze, wo es geht. Den Schülern werde sie trotzdem kaum noch gerecht. „Einerseits möchte man die Schüler, die gymnasial unterrichtet werden, zum Abi führen.“ Dann gebe es aber auch zieldifferente Kinder, die nach individuellen Förderplänen unterrichtet und vielleicht nie Abitur machen werden. Die Sonderpädagogin fürchtet, dass der Inklusionsgedanke zwischen Personal- und Zeitmangel im Laufe der Schulzeit auf der Strecke bleibt: „Es geht ja darum, zusammen zu lernen, um ein Gemeinschaftsgefühl. Aber je älter die Inklusionsschüler werden, desto mehr werden viele auch ausgesondert, weil sie nicht mehr mitkommen.“ Viele bräuchten eine Eins-zu-eins-Betreuung, „weil sie gar nicht eigenständig lernen, nicht lesen oder schreiben können“.

Dass die Situation am Gymnasium am Stadtpark kein Einzelfall ist, weiß Anja Rohde auch aus dem Forum Gemeinsames Lernen, in dem sich Krefelds Sonderpädagogen zuletzt Anfang Juni trafen. 44 ausgeschriebene Stellen seien derzeit unbesetzt, habe es da vom Schulamt geheißen. „Wir wären ja schon zufrieden, wenn noch jemand zweites an unsere Schule kommt“, sagt Rohde.

Zu wenig Fachkräfte, zu wenig Geld: „Schulen sind nicht so ausgestattet, dass wirklich inklusiv gearbeitet werden kann“, bedauert Bildungsdezernent Markus Schön. Die angespannte Situation an den Schulen des Gemeinsamen Lernens bekommt die Stadt auch finanziell zu spüren. „Seit der Schulrechtsänderung zum 1. August 2014 steigen die Ausgaben für die Inklusionshilfe im Rahmen der Jugendhilfe jährlich um eine Million Euro“, sagt Schön. Den Kindern und Jugendlichen, die in ihrer Teilhabe am gesellschaftlichen Leben beeinträchtigt sind, steht ein Integrationshelfer als individuelle Eingliederungshilfe zu. Für dieses Jahr rechnet die Verwaltung hier mit Kosten über sechs Millionen Euro.

Dagegen erscheinen die 25 Millionen, mit denen die Inklusion an Schulen derzeit landesweit gefördert wird, wie ein Tropfen auf dem heißen Stein.

Als gescheitert will Schön sie trotzdem nicht bezeichnen, betont aber: „Wenn man das Gemeinsame Lernen an den Schulen praktisch konsequent leben will, dann muss man es mit Geld fördern — nicht nur mit guten Worten.“

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