Gedenken Als die Synagogen brannten

Die Leiterin der NS-Dokumentationsstelle erinnert an Angriffe auf Juden um die Pogromnacht vor 83 Jahren

 Sandra Franz leitet die NS-Dokumentationsstelle.

Sandra Franz leitet die NS-Dokumentationsstelle.

Foto: Simon Erath

Im November 1938 eskalierte die Situation der als jüdisch verfolgten Menschen auf deutschem Gebiet in einem Ausmaß, das uns nach wie vor sprachlos zurücklässt. Menschen wurden in ihren eigenen vier Wänden überfallen, gedemütigt, verprügelt und verhaftet. Die Zahl der Todesopfer wurde lange Zeit auf 100 Personen im ganzen Land eingestuft – eine Zahl, die sich so in den Unterlagen der Nationalsozialisten findet.

Tatsächlich liegt die Zahl viel höher. Eine Studie des Teams der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf hat 2018 belegt, dass allein auf dem Gebiet des heutigen NRW 131 Menschen in dieser Nacht oder in ihrer direkten Folge das Leben verloren, zwei davon – Karl Merländer und Alfred Lorant – in Krefeld.

Etabliert ist inzwischen immerhin, nicht mehr von der „Reichskristallnacht“ zu sprechen. Nicht nur, dass es sich hierbei um einen verharmlosenden NS-Begriff handelt, der bereits im Winter 1938 abschätzig und höhnisch gemeint gewesen ist. Vielmehr bedient er auch antisemitische Klischees von angeblich allgemein wohlhabenden jüdischen Menschen, die alle Kostbarkeiten wie Kristall im Schrank hatten, die sich andere Menschen nicht leisten könnten. Und der Begriff ist irreführend, er verbirgt die Todesopfer, er verbirgt die 30 000 Männer, die im Zuge des Pogroms verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt wurden. Und er ist schon alleine in seiner Dimension nicht korrekt – es handelt sich nicht um eine heimliche Aktion, die im Schutze der Dunkelheit durchgeführt wurde. Bis zu 72 Stunden dauerte es, bis auch die letzten Pogromangriffe verstummten, Menschen wurden am helllichten Tag angegriffen, Synagogen brannten, während St. Martinszüge daran vorbeizogen: In Krefeld war der Höhepunkt der Eskalation übrigens der 10. November.

Fakt ist: in dieser Nacht ist die Zivilisation, die seit 1933 immer mehr Brüche bekommen hatte, endgültig zerbrochen. Was nun folgte, ist aus unserer heutigen Sicht der Übergang von den antijüdischen Maßnahmen der Politik zu den Ghettos von Łódź, Theresienstadt und Warschau und den Gaskammern in den Vernichtungslagern von Auschwitz-Birkenau, Bełżec, Treblinka und Sobibór. Hier radikalisierte sich das Vorgehen gegen die als jüdisch eingestuften Menschen zu dem, was wir heute als Shoa bezeichnen – die „Urkatastrophe“.

Erinnerungen an die Verbrechen des Nationalsozialismus

76 Jahre nach Ende des Nationalsozialismus erinnern wir – zurecht – immer noch unermüdlich an die unsagbaren Verbrechen, die damals im Namen der deutschen Regierung begangen wurden. Sie haben unsere Bundesrepublik auf das Tiefste geprägt. Unser Grundgesetz basiert maßgeblich auf dem Prinzip, dass dies nie wieder geschehen darf. Bereits der allererste Paragraph besagt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Doch gerade in den vergangenen Monaten stellt sich mir persönlich unweigerlich die Frage: 83 Jahre nach der Pogromnacht – was haben wir tatsächlich daraus gelernt? Immer noch existieren rechtspopulistische Stimmen, die uns erzählen wollen, dass wir einen „Schlussstrich“ unter die Erinnerungskultur an die Shoa bräuchten. Parallel dazu werden auch heute in Europa wieder Menschen aufgrund ihrer Religion, sexuellen Orientierung oder Nationalität angefeindet, angegriffen, bedroht und bei gezielten Anschlägen ermordet. Wenn wir nur eine Lektion aus der Geschichte ziehen, dann diese: Laut „Nein!“ zu sagen, bevor es zu spät ist. Dass es keine „schweigende Mehrheit“ geben darf. Dass jeder Form von Diskriminierung, Ausgrenzung und Angriff entgegengetreten werden muss, klar und ohne zu zögern. Dass Menschen, die antisemitisch oder rassistisch angegriffen werden, von einer schweigenden Masse, die nur zusieht, genauso verletzt wird wie von dem Angriff selbst. Dass wir klar und deutlich vernehmbar sagen: „Hier waren wir schon einmal. Nein, nicht nochmal!“ 83 Jahre nach der Pogromnacht und 76 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz ist es an der Zeit zu zeigen, dass wir etwas aus den Verbrechen der Vergangenheit gelernt haben.

Zur Person: Sandra Franz ist seit dem 1. März 2018 Leiterin der NS-Dokumentationsstelle in der Villa Merländer in Krefeld. Die gebürtige Ratingerin hat nach einer Ausbildung zur Buchhändlerin Geschichte und Jiddistik an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf studiert. Nach ihrem Abschluss als Master of Arts wechselte Franz an die University of Oxford, belegte Studiengänge in „Historical Studies“ sowie in „Literature and Arts“.

Zum Gedenken an die während der Zeit des Nationalsozialismus umgekommenen und ermordeten Jüdinnen und Juden veröffentlicht die Westdeutsche Zeitung auf der Seite 18 der heutigen Lokalausgabe eine ganzseitige Liste mit 993 Namen von Menschen, die in Krefeld geboren worden sind oder gewohnt haben.

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