Helfer kehrt an den Ort des Traumas zurück Bihac und der lange Weg der Auferstehung

Dortmund. · Als im Februar 1994 täglich 2000 serbische Granaten einschlugen, war Dirk Planert unter den Eingeschlossenen der bosnischen Stadt. 25 Jahre später kehrte der Helfer an den Ort des Traumas zurück.

 2019: Dirk Planert (r.) mit Sabina Arzic und ihrem Sohn in Brekovica bei Bihac. Heute ist sie Großmutter.

2019: Dirk Planert (r.) mit Sabina Arzic und ihrem Sohn in Brekovica bei Bihac. Heute ist sie Großmutter.

Foto: Dirk Planert

Einen Gang durch die Kerzenabteilung von Ikea erträgt Dirk Planert nicht. Die Duftmischung erinnert ihn an den Geruch des Putzmittels im Hause Kapic, damals, in Bihac. Und schon sind sie wieder da, die Bilder vom Krieg.

13 Tage war er eingeschlossen im Kessel von Bihac. 13 Tage im Februar 1994, als die serbischen Belagerer in einer Großoffensive versuchten, die mehrheitlich von Muslimen bewohnte UN-Schutzzone zu erobern. 2000 Granaten täglich, das macht in 13 Tagen 26 000 Granaten – bei einer Einwohnerzahl von rund 60 000. „Man konnte sich nicht mehr bewegen, ohne sekündlich damit zu rechnen, von einer Granate zerrissen zu werden.“

In diesen 13 Tagen hat Planert seine Sonderrolle als humanitärer Helfer aus Deutschland aufgegeben. Er hat mit den anderen gezittert, er hat mit ihnen Todesängste ausgestanden, er hat sich mit einem Messer hinter die Tür gestellt, um sich gegen serbische Eroberer wehren zu können. „In diesen 13 Tagen gab es keinen Unterschied mehr zwischen mir und den Menschen der Stadt.“

Warum macht einer das: sich freiwillig dem Krieg auszusetzen? Wer Planerts Geschichte hört, wird ihn wahlweise für radikal und konsequent halten. Oder für verrückt. 1 oder 0, ganz oder gar nicht. So beschreibt der Journalist selbst seine Lebenseinstellung. „Ich verstehe die Menschen nicht, die bei 0,5 leben.“

 1994: Die UN dreht ihre Runden auf der Straße Kasima Cehajica. Die Soldaten verlassen wegen der Granaten die Panzer nicht.

1994: Die UN dreht ihre Runden auf der Straße Kasima Cehajica. Die Soldaten verlassen wegen der Granaten die Panzer nicht.

Foto: Dirk Planert
 2019: Ein junges Liebespaar geht spazieren. Melis und Leyla sind beide erst nach dem Krieg geboren. In ein paar Monaten gehen sie nach Deutschland.

2019: Ein junges Liebespaar geht spazieren. Melis und Leyla sind beide erst nach dem Krieg geboren. In ein paar Monaten gehen sie nach Deutschland.

Foto: Dirk Planert

Eine Unterschrift gegen den Krieg – und ihre Folgen

Es ist der 14. Juni 1992, als der damals 25-Jährige auf 1 schaltet. Am Nachmittag verlässt der Student der Germanistik, Politik, Philosophie und Geschichte die Mittelhochdeutschvorlesung in Siegen und steht vor dem Stand einer christlichen Organisation, die Unterschriften gegen den Jugoslawienkrieg sammelt. Er unterschreibt, geht weiter – und stoppt nach 25 Metern. „Mit einer Unterschriftensammlung bewegst du gar nichts“, denkt er sich. Gegen den Krieg kann er nichts machen, aber die massive Unterversorgung in der Kriegsregion will er nicht schulterzuckend akzeptieren.

Planert nimmt Kontakt zu einem kroatischen Arzt auf, er verteilt Flugblätter, er gewinnt die Arbeitsgemeinschaft Selbstständiger Unternehmer, er sammelt Geld, Kleidung, Lebensmittel, Medikamente. 13 Tage später trifft der Student mit dem ersten Lkw in der kroatischen Stadt Rijeka ein.

Es muss eine Fahrt gewesen sein, die das Gefühl gestärkt hat, das Richtige zu tun. Planert gründet den Verein „Aktion Soforthilfe“, es entstehen 32 Filialen mit insgesamt 400 ehrenamtlichen Helfern. Innerhalb eines halben Jahres machen sich 19 Transporte auf den Weg. Planert selbst zieht nach Rijeka um. „Du musst besessen sein“, sagt er heute.

 2019: Seit der Befreiung durch das kroatische Militär im Jahr 1995 ist die damals von Serben besetzte Krajina wieder kroatisches Gebiet – und Bihac befreit.

2019: Seit der Befreiung durch das kroatische Militär im Jahr 1995 ist die damals von Serben besetzte Krajina wieder kroatisches Gebiet – und Bihac befreit.

Foto: Dirk Planert
 1994: Der letzte kroatische Checkpoint an der Front zwischen Kroaten und Serben im Vorort Turanj, Karlovac, Kroatien – 100 Kilometer nördlich von Bihac.

1994: Der letzte kroatische Checkpoint an der Front zwischen Kroaten und Serben im Vorort Turanj, Karlovac, Kroatien – 100 Kilometer nördlich von Bihac.

Foto: Dirk Planert

Die eingekesselte Stadt
gilt als unerreichbar

Anfang 1993 versuchen die Serben bis zur Adriaküste vorzudringen. Planert versorgt ein Lager ehemaliger bosnischer Kriegsgefangener nahe der kroatischen Stadt Karlovac, nur 800 Meter von den Serben entfernt. Aber bald gilt sein Blick dem von Serben umzingelten Kessel von Bihac, von dem es heißt, es sei unmöglich, durch die Frontlinien zu dringen. Als der Helfer zwei Freaks trifft, die es trotzdem geschafft haben, zögert er nicht. Zwischen August 1993 und Februar 1994 ist Planert fünfmal in der bosnischen Stadt, zu Weihnachten mit sieben Lkws und Medikamenten im Millionenwert.

Wer sich mit Haut und Haar auf diese Gefahren einlässt, lässt sich auch mit Haut und Haar auf die Menschen ein. Wenn persönliche Schicksale sein Herz erreichen und er sich Zusagen verpflichtet fühlt, scheint Planert von einer sich selbst gegenüber gnadenlosen Bedingungslosigkeit erfasst. Sieben junge Menschen holt er mit Unterstützung anderer aus dem Kessel heraus, meist einzeln auf abenteuerliche Weise geschmuggelt unter Einsatz von Leib und Leben. Aber zum Schluss sind es gleich zwei – die lassen sich nicht gemeinsam schmuggeln. Also bleibt er in Bihac, während Freunde mit den Krajina-Serben verhandeln, 13 Tage lang. Es sind die 13 Tage der Hölle in einer Stadt, die er heute seine zweite Heimat nennt.

Dirk Planert ist inzwischen doppelt so alt wie damals. Welchen Preis hat er gezahlt für all seinen Einsatz? „Dass der Schmerz des Krieges dich nie mehr loslässt“, antwortet er. „In dieser extremen Situation habe ich erfahren, was ich kann, wer ich bin und wozu ich in der Lage bin.“ Aber das, was Fachleute posttraumatische Belastungsstörung nennen, hat ihn all die Jahre gequält, immer wieder. „Erst als der Krieg vorbei war, habe ich gemerkt, was er mit mir gemacht hat.“

25 Jahre später, die eigene Tochter erwartet ihr erstes Kind, Planert hat das Gefühl, abschließen zu müssen. Im Keller lagern Tausende Negative aus der Stadt, die er seit den 90er Jahren nicht mehr betreten hat. Er sortiert, er postet Aufnahmen auf Facebook, Menschen erkennen sich wieder, melden sich bei ihm. Im Februar 2019 bricht er auf, die alten Gerüche und Bilder im Kopf. Es wird eine Fahrt der persönlichen Auferstehung. Und der Begegnung mit einer Stadt, die er jetzt „wunderschön“ nennen kann. Die neuen Bilder legen sich über die alten.

Besuch in der Kinderabteilung des Krankenhauses von Bihac. Schon der Geruch ist eine Befreiung. „Es hat nach Babyöl gerochen – und nicht nach Blut und Schweiß.“ Die Zimmer sind lichtgeflutet, weil keine Bretter die Fenster verdunkeln. Vor allem aber werden hier jetzt normale Krankheiten behandelt und nicht mehr die Wunden, die der Krieg geschlagen hat. „Ich bin ein paar Tonnen leichter wieder hinausgegangen.“

Operation dank der Materialien,
die Planert geliefert hatte

 Das Krankenhaus in Bihac im Februar 1994. Während der serbischen Offensive wurde vor der Leichenhalle mehrmals täglich Abschied genommen. 

Das Krankenhaus in Bihac im Februar 1994. Während der serbischen Offensive wurde vor der Leichenhalle mehrmals täglich Abschied genommen. 

Foto: Dirk Planert
 Dasselbe Krankenhaus im Februar dieses Jahres, also 25 Jahre später. Der Alltag der Mitarbeiter ist schon lange nicht mehr vom Krieg und seinen Folgen geprägt.

Dasselbe Krankenhaus im Februar dieses Jahres, also 25 Jahre später. Der Alltag der Mitarbeiter ist schon lange nicht mehr vom Krieg und seinen Folgen geprägt.

Foto: Dirk Planert

Planert sucht Orte auf und Menschen, fotografiert sie 25 Jahre später, erfährt berührende Momente der Dankbarkeit. Bei einer Rockerparty in Bihac steht plötzlich eine Frau Mitte dreißig mit Tränen in den Augen vor ihm. Vor 25 Jahren war sie schwerstverletzt ins Krankenhaus eingeliefert worden. Ihre Operation gelang dank der Materialien, die Planert zuvor in die Stadt gebracht hatte. „Das war ein bisschen wie das Einfahren der Ernte“, beschreibt der Journalist die Begegnung. Auch wenn er inzwischen glaubt, dass es den eingeschlossenen Menschen längst nicht nur um das Materielle ging. „Das Wichtigste, das wir geladen hatten, war die Hoffnung.“

Heute leben die Feinde von einst wieder gemeinsam in der Stadt. Die Probleme sind jetzt andere. Bihac ist Sammelstelle für die Flüchtlinge, denen die Balkanroute versperrt ist, es mangelt an Arbeitsplätzen. Planert überlegt schon wieder, wie er helfen kann. Der Antrieb ist noch derselbe wie damals: „Ich habe diese Menschen geliebt.“

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