Genitalverstümmelung Beschneidung - 3686 Mädchen in NRW sind bedroht

Düsseldorf · Auch in NRW steigt die Zahl der von Genitalverstümmelung Betroffenen. Eine einzige Beratungsstelle gibt es in Düsseldorf – Leiterin Jawahir Cumar war selbst Opfer.

Jawahir Cumar kämpft mit dem Verein „Stop Mutilation!“ seit 1996 gegen Genitalverstümmelung. Die Beratungsstelle gibt es seit zehn Jahren.

Jawahir Cumar kämpft mit dem Verein „Stop Mutilation!“ seit 1996 gegen Genitalverstümmelung. Die Beratungsstelle gibt es seit zehn Jahren.

Foto: Juliane Kinast

Die Zahl der von Genitalverstümmelung betroffenen Mädchen und Frauen in Deutschland ist in der jüngsten Vergangenheit rasant gewachsen. Ging die Dunkelzifferstatistik, die Terre des Femmes auf der Basis von Schätzungen jährlich veröffentlicht, 2012 noch von knapp 24 000 bereits betroffenen Frauen und etwa 6200 gefährdeten Mädchen aus, sind es aktuell wohl fast 65 000 Betroffene und mehr als 15 500 Gefährdete.

Und: Zum ersten Mal schlüsselt die Statistik 2018 die Zahlen nach Bundesländern auf. Demnach leben die meisten Betroffenen in Nordrhein-Westfalen: 13 455 bereits beschnittene Frauen und Mädchen, 3686 weitere, denen die grausame Prozedur droht. Und die wird Expertinnen zufolge wohl auch in Deutschland durchgeführt.

„Es ist schon länger in Europa ein Problem“, sagt Charlotte Weil, Referentin für Weibliche Genitalverstümmelung bei der Menschenrechtsorganisation Terre des Femmes. Und nicht nur, weil weibliche Flüchtinge etwa aus Somalia oder Eritrea es mitbringen. In Frankreich wurden bereits Prozesse gegen Eltern und Beschneiderinnen geführt, auch aus Amsterdam gebe es Berichte von Beschneidungen vor Ort, so Weil.

„Es ist zu vermuten, dass es auch in Deutschland passiert“, so Weil. „Es ist eine Praktik, die im Untergrund stattfindet. Die stark tabuisiert ist.“ Noch jung ist das Gesetz, das seit 2013 Genitalbeschneidung in Deutschland unter Strafe stellt – erst seit 2015 ist sie auch dann illegal, wenn sie im Ausland durchgeführt wurde. Das Problem: Das Thema ist in der Öffentlichkeit kaum präsent. „Anlaufstellen gibt es kaum“, erklärt Weil.

Vier in ganz Deutschland, um genau zu sein. Berlin, Frankfurt, München. Die einzige Beratungsstelle in NRW betreibt Jawahir Cumar in Düsseldorf. „Natürlich wird es auch in Deutschland gemacht. Beschneiderinnen reisen aus London ein oder aus Belgien“, ist sie ganz sicher – obwohl sie das nie aus erster Hand von Betroffenen erfahren hat. „Sie wissen, dass wir es sofort anzeigen würden.“

In Cumars Büro im Stadtteil Bilk steht eine gemütliche Couch neben dem Schreibtisch, afrikanische Tücher hängen an der Wand – und das Bild eines mit grobem Faden vernähten Pfirsichs. Es ist das Logo ihres Vereins „Stop Mutilation!“. Das Handy der 42-Jährigen klingelt. Es ist eine Jugendamtsmitarbeiterin aus einem Dorf im Sauerland. Eine Erzieherin habe sie um Hilfe gebeten, weil ein nigerianisches Mädchen im Kindergarten erzählt habe, ihr Vater wolle „ihr etwas abschneiden“. „Für uns ist das ein ganz neues Thema“, sagt die Anruferin hilflos.

Dass die Beteiligten in diesem Fall so wachsam reagieren, sei außergewöhnlich, erklärt Jawahir Cumar. Üblicherweise denke sich niemand etwas dabei, wenn Mädchen etwa erzählen, es solle ein großes Fest mit Geschenken für sie gefeiert werden, obwohl sie gar nicht Geburtstag haben. Dann falle erst später auf, dass die Betroffenen sich zurückziehen, nicht mehr spielen, ungewöhnlich lange auf der Toilette brauchen. „Wir stecken in den Kinderschuhen, was das Thema Frauenbeschneidung in Deutschland angeht“, sagt die Beraterin.

Sie erinnert sich an einen verzweifelten Anruf aus einer Klinik, die eine schwangere Frau mit einer Beschneidung des Typs III im Kreißsaal in den Wehen liegen hatte – mit einer Öffnung vom Durchmesser eines Zahnstochers. Es blieb nur ein Kaiserschnitt. „Um die Frau standen irgendwann acht ratlose Ärzte herum. Sie fühlte sich wie ein Affe im Käfig. Dabei dachte sie doch, sie sei ganz normal“, schildert Cumar die Situation.

Erst seit wenigen Jahren zahlten die Krankenkassen für die Rekonstruktion der Genitalien bei den Frauen, damit sie Wasser lassen, ein erträgliches, manchmal auch angenehmes Sexualleben und natürliche Entbindungen haben könnten. Aber es gebe wenige Ärzte, die darauf spezialisiert sind. „Stop Mutilation!“ arbeitet mit einem Gynäkologen aus Aachen zusammen, der den Frauen ein bisschen von dem zurückgibt, was ihnen genommen wurde.

Jawahir Cumar weiß um die Bedeutung dieses Eingriffs. Sie kam nach Deutschland, als sie elf Jahre alt war. Aber bereits im Alter von fünf Jahren ist sie selbst in Somalia beschnitten worden – wie 98 Prozent aller Mädchen dort. Zumindest wurde die Verstümmelung bei ihr unter Narkose in einer Klinik vorgenommen. Die acht Wochen danach mit zusammengebundenen Beinen und schrecklichen Schmerzen sind für die 42-Jährige aber bis heute eine traumatische Erinnerung. Ihre drei Kindern konnte sie nach einer chirurgischen Öffnung auf natürlichem Wege zur Welt bringen. Gern spricht sie über ihre eigene Betroffenheit nicht – weil ihr die Opferrolle nicht behagt, in die sie das presst. Aber bei ihrer Arbeit, das weiß sie, hilft das Erlebte.

Denn die Beschneidung geht üblicherweise einher mit der Beschwörung, niemals und mit niemandem darüber zu reden. „Viele Frauen kommen zu uns erst einmal, weil sie in Deutschland bleiben wollen. Es dauert, bis sie sich öffnen“, berichtet Cumar – es helfe, dass Genitalverstümmelung seit einigen Jahren verstärkt als Asylgrund anerkannt werde. Vor allem aber hilft es, dass die Frauen und Mädchen bei „Stop Mutilation!“ auf Menschen treffen, die genau wissen, wovon sie sprechen.

Spezielle Gruppen gibt es auch für Männer; dieser Teil der Aufklärungsarbeit wird in Düsseldorf von einem afrikanischen Flüchtling geleitet, der allein mit seinen vier Kindern in Deutschland ankam, weil seine beschnittene Frau auf der Flucht in der Wüste Wehen bekam, dort ohne ärztliche Hilfe nicht entbinden konnte und mit dem fünften Kind im Bauch starb. „Er ist der glühendste Gegner der Beschneidung“, sagt Cumar.

Insgesamt 1175 Männer und Frauen hat der Verein im vergangenen Jahr beraten. In 89 Fällen konnten die Eltern junger Mädchen vom Plan der Genitalverstümmelung abgebracht werden – was man im Nachhinein auch etwa durch regelmäßige Inspektionen beim Arzt kontrolliere. „Viele wissen nicht einmal, dass es verboten ist“, sagt Cumar. „Uns fehlt Aufklärung.“ Und zwar auch innerhalb aller Berufsgruppen, die mit Familien und Mädchen befasst sind – von der Polizei über Ärzte und die Flüchtlingshilfe bis hin zu Erziehern und Lehrern. „Aber das können wir nicht für ganz NRW leisten“, sagt die Beraterin, deren Arbeit vom NRW-Ministerium für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung finanziert wird.

Terre des Femmes fordert deshalb, dass die Aufklärung als Bestandteil in die Ausbildung von Pädagogen, aber auch Hebammen und Sozialarbeitern integriert wird. „Nur wer geschult ist, erkennt die Verdachtsmomente“, ist Referentin Charlotte Weil sicher. Zudem hat die Organisation gerade eine Petition gestartet, um U-Untersuchungen beim Kinderarzt zur Pflicht zu machen, damit eine illegale Beschneidung auffliegen würde. Das wirke auch vorbeugend. Zudem bildet Terre des Femmes „Change Agents“ aus den Gemeinschaften selbst aus, die über gesundheitliche und rechtliche Folgen der Genitalverstümmelung informieren. „Damit haben wir gute Erfahrungen gemacht“, so Weil. „Für Außenstehende ist das fast unmöglich.“ Allerdings fehle es dieser Präventionsarbeit an finanziellen Mitteln.

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