Gastbeitrag von Gerhard Schurz, Heinrich-Heine-Uni Düsseldorf : Von Verzicht und Risiko in der Pandemie
Meinung Düsseldorf Selten hatten medizinische Experten soviel politische Macht und wurden andererseits so massiv angezweifelt. Dieser Essay möchte zur Klärung dieses Widerspruchs beitragen.
Selten hatten medizinische Experten soviel politische Macht und wurden andererseits so massiv angezweifelt. Dieser Essay möchte zur Klärung dieses Widerspruchs beitragen. Aber nicht, wie bei Gegnern von Corona-Schutzmaßnahmen üblich, indem medizinisches Faktenwissen bezweifelt wird. Stattdessen soll der Blick für den Unterschied zwischen den Fakten und Wertentscheidungen geschärft werden. Epidemiologie-Experten können uns sagen, welche Verzichtsmaßnahmen die Infektionsraten so-und-so niedrig halten können. Aber ob diese Verzichtsmaßnahmen die damit erreichten Wirkungen wert sind, durch sie legitimiert werden, ist keine medizinische Frage, sondern eine Wertentscheidung. Für die Wertentscheidungen in der Coronafrage sind Psychologie, Ökonomie und Philosophie ebenso wichtig wie Medizin und Epidemio-logie. Letztlich aber ist diese Wertentscheidung von allen Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes im Rahmen unserer parlamentarischen Demokratie vorzunehmen.
Die Wertentscheidung, um die es geht, ist eine Abwägung zwischen Grundwerten und Grundrechten, die in der Coronakrise in Konflikt geraten sind: Gesundheit auf der einen Seite; Freiheit und Wohlergehen auf der anderen. Wieviel Verzicht auf Freiheit und Lebensqualität ist die Verringerung des coronabedingten Sterberisikos wert?
Statistisch gemittelt ist die Coronagefahr etwa zwei- bis dreimal so hoch wie die einer Grippewelle. Doch ist die coronabedingte Sterberate stark altersabhängig; sie betrifft im wesentlichen nur die über 65-jährigen und verstärkt die über 75-jährigen, ist aber für den Rest der Bevölkerung kaum gefährlicher als eine Grippewelle.
Die Wertentscheidung, um die es geht, muss also so gestellt werden: Ist die Vermeidung von etwa 9 Prozent coronabedingter Übersterblichkeit in der Altersgruppe der über 65-jährigen den Preis wert, 100 Prozent der Bevölkerung quasi zuhause einzusperren, Geschäfte und Freizeitbetriebe zu schließen und so der Wirtschaft massiv Schaden zuzufügen, sowie Schulen und Universitäten zu schließen, ganz abgesehen den psychischen Schäden eines Lockdowns? Dies kann bezweifelt werden.
Zum Altwerden gehört aus biologischen Gründen ein erhöhtes Sterberisiko durch schwächere Immunabwehr. Schon immer haben Epidemien bei Hochbetagten erhöhte Sterbezahlen bewirkt. Das ist traurig, aber muss man deshalb das ganze Land zusperren? Entrüstet mag manch Leser erwidern: Sollen wir tatenlos zusehen, wie viele alte Menschen sterben? Natürlich nicht, moderate Schutzmaßnahmen von Maskenpflichten und Abstandsregen bis zu Gruppenobergrenzen und teilweisem Homeoffice im Paralleltakt sind absolut angemessen. Aber nicht der totale Lockdown, dazu ist die Freiheit ein zu hoher Wert.