Volker Mittendorf von der Bergischen Uni über politische Systeme und die Bedeutung von Wahlen „Eine funktionierende Demokratie braucht keine Angst“

Am 26. September finden die Bundestagswahlen in Deutschland statt. Tiefgreifende Veränderungen stehen bevor, denn die „reinen Volksparteien wird es in Zukunft nicht mehr geben“, sagt zumindest der Politikwissenschaftler Dr. Volker Mittendorf, der sich an der Bergischen Universität mit Politischen Systemen befasst.

 Am 26. September sind Bundestagswahlen.

Am 26. September sind Bundestagswahlen.

Foto: dpa/Uwe Anspach

Wie sie entstanden und sich verändern, weiß der gebürtige Hesse sehr genau.

Der Begriff des Politischen Systems ist noch gar nicht so alt. Entstanden sei er ab den 40er-Jahren des 20. Jahrhunderts aus der Beobachtung heraus, dass es bestimmte Prozesse gebe, deren Anfangs- und Endzustände feststellbar seien. „Aber das, was dazwischen passiert, das kann man nicht so genau beobachten und für diesen Bereich dazwischen hat sich der Begriff des Politischen Systems entwickelt.“

Man könne in diesem Zusammenhang nie von gut oder schlecht sprechen, denn es gehe immer darum, wer über gut und schlecht entscheide, daher sei es sinnvoller, das Zusammenspiel von den unterschiedlichsten Elementen zu bewerten, die ein System funktionsfähig oder dysfunktional machten. „Und bei der Dysfunktionalität ist dann die Frage, ob sie durch interne Auf- oder Umbaumaßnahmen wieder zu stabilen Verhältnissen geführt hat oder ob sich diese Instabilität hochschaukelt und unter Umständen zu einem vollständigen Systemversagen führt.“

Der Begriff des Politischen Systems sei dabei nicht nur auf Nationalstaaten, sondern auch auf das weltpolitische System anwendbar. Vor diesem Hintergrund ließe sich gut beobachten, dass es sich in Deutschland seit 1949 als relativ schnell stabil und über die Zeit auch als umbaubar erwiesen habe. „Es hat immer wieder Herausforderungen gegeben, auf die das Politische System in diesem Sinne gut reagiert hat, anders als etwa die Weimarer Republik in den 30er-Jahren“, erklärt er. Die Weimarer Verfassung sei zwar formal als Verfassung noch weiter in Kraft gewesen, aber dann in eine Diktatur umgebaut worden, und das könne man empirisch messen.

Entscheidend für die Einordnung eines politischen Systems ist nie die festgeschriebene Verfassung allein, sondern vor allem die sogenannte Verfassungswirklichkeit. Dieser Begriff sei in Deutschland letzten Endes kein politikwissenschaftlicher, sondern ein staatsrechtlicher Begriff und komme aus der rechtsphilosophischen Lehre. „Es gibt immer den Verfassungsanspruch, dem die Verfassungswirklichkeit gegenübersteht und dann als Drittes in die Verfassungsverwirklichung übergeht.“

Der Staatsrechtler und auch der Politikwissenschaftler, der sich damit auseinandersetzt, solle immer auf den Verfassungstext schauen, aber die Wirklichkeit im Auge behalten, denn auch Gerichtsurteile seien veränderbar. Somit sei der Dreierschritt ständig im Fluss, denn wenn sich Verfassungen änderten, entstehe auch wieder ein neuer Verfassungsanspruch.

Aktuelle Beispiele der jüngsten Zeit seien die Themen Kinderrechte und Klimaschutz. „Das sind Verfassungsansprüche, die dann in der Rechtssprechungspraxis gegebenenfalls. eine Tendenz bewirken“, so Mittendorf. Das Verfassungsgerichtsurteil zum Klimaschutz kann da als bahnbrechende Entscheidung angesehen werden. Es besagt, dass nicht nur die künftige Generation allein mit den Kosten belastet werden dürfe. Dieser Anspruch sei quasi in die bestehende Verfassung hineininterpretiert worden. Um das Klimaziel tatsächlich erreichen zu können, entstehe nun eine heftige Debatte, die man mit den Begriffen Verfassungswirklichkeit und Verfassungsverwirklichung gut beschreiben könne.

Fragt man nach der Manipulationsanfälligkeit Politischer Systeme, hat man schnell Namen wie Wladimir Putin oder Recep Tayyip Erdoğan im Kopf, die scheinbar Verfassungsänderungen problemlos umsetzen, um auf Lebenszeit im Amt zu bleiben. „Sie sind vor allem gut darin, die Verfassung oder den Verfassungsanspruch umzuschreiben“, erklärt Mittendorf.

Das habe aber weniger mit Manipulation, sondern vielmehr mit Macht zu tun. Macht sei überall in der Gesellschaft vorhanden. Sobald jemand dem Willen eines anderen entspreche, sei bereits Macht ausgeübt worden. In einer Drohung stecke beispielsweise Macht. „Sobald Machtressourcen in der Gewaltenteilung nicht mehr gleichmäßig verteilt sind, verändern sich Politische Systeme. Wenn es den Unterstützern dieser Machtmenschen gelingt, die Folgebereitschaft in der Bevölkerung zu mobilisieren, dann gelingt es ihnen auch, die Macht zu monopolisieren und die Gewaltenteilung auszuhebeln. Das sehen wir bei Putin, Erdogan, der trotz ökonomischer Prozesse, die seine Macht schwinden ließen, es verstanden hat, mit der Umdefinition seines Präsidentenamtes nach dem Putsch seine Person zu stärken. Und teilweise haben wir Ähnliches auch bei Trump erlebt.“

„In einem liberalen Rechtsstaat mit einer sehr gut ausgebauten Demokratie, ist die Angst vor der Regierung nicht die wesentliche Triebkraft“ sagt der Wissenschaftler. „Eine funktionierende Demokratie braucht keine Angst“, sagt Mittendorf bestimmt, „und eine gute Demokratie braucht auch keine Helden.“ Helden brauche es nur dort, wo Politik mit Angst funktioniere. Am 26. September sind Bundestagswahlen. Die Ära Merkel ist zu Ende, bei den Grünen steht die erste Frau in den Startlöchern, die Sozialdemokraten rutschen weiter ab, die Rechten haben bereits in Sachsen ein zweistelliges Wahlergebnis erzielt. Mittendorf: „Die Kräfteverhältnisse entwickeln sich von den klassischen Volksparteien weg. Der Trend ist schwer zu leugnen.“

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