Ausstellung in der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf Zeitzeuge besucht sein eigenes Bild

Wolfgang Kannengießer ist Teil der Ausstellung in der Mahn- und Gedenkstätte. Zu seinem 90. Geburtstag besuchte er sie jetzt.

Ausstellung in der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf: Zeitzeuge besucht sein eigenes Bild
Foto: Sergej Lepke

Düsseldorf. Sein Sohn schiebt den Rollstuhl von Wolfgang Kannengießer vor die Stele mit dem Bild eines jungen Knaben in feinem Anzug vor der Kuppel der Tonhalle. „Ach, du lieber Gott“, entfährt es Kannengießer. Aber er lächelt. Das tut er eigentlich meistens. Der Junge auf dem Foto ist er selbst. Es ist zu sehen in der Dauerausstellung „Düsseldorfer Kinder und Jugendliche im Nationalsozialismus“ in der Mahn- und Gedenkstätte an der Mühlenstraße. Wolfgang Kannengießer ist der letzte noch lebende Zeitzeuge, dessen Geschichte dort erzählt wird. Gestern besuchte er die Schau zu seinem 90. Geburtstag.

20 Geschichten werden in der Ausstellung erzählt. Wolfgang Kannengießers Geschichte ist jene über den Jugendwiderstand der Messdiener. Er selbst erinnert sich noch gut, wie er mit seinen Freunden von der katholischen „Jugendkraft“ einen Stürmer-Kasten vor der Residenz des Gauleiters zerschmetterte und eine Zeichnung mit dem Christussymbol hineinlegte. „Das war schon ein bisschen waghalsig“, kichert er. So richtig in die Bredouille brachte es ihn, als er in einem Bäckerladen an der Franklinstraße, wo er aufwuchs, ein Plakat der Hitlerjugend abriss — und verpfiffen wurde. Da holte ihn die Gestapo zu Hause ab, verhörte ihn zwei Tage lang. Man wollte wissen, wo die katholische Jugend sich traf, wer dabei war. Der 15-jährige Wolfgang stellte sich dumm und verriet nichts. „Angst kannten wir nicht.“

Doch er sollte sie kennen lernen. Mit erst 17 Jahren wurde er zum Heer eingezogen. „Das war die Strafe, weil ich nicht in der HJ war“, ist der heute 90-Jährige sicher. Sein älterer Bruder Leo war gerade in Smolensk gefallen. Der Vater fuhr ein Stück mit dem Zug mit, als Wolfgang Kannengießer nach Dänemark musste. „Und meine Mutter stand da am Bahnhof — ganz dünn und allein. Schlimm war das ...“ Erst 60 Jahre später sollte Kannengießer seinen Bruder wiederfinden: Durch Zufall wurde dessen Leiche samt Marke bei Arbeiten in Russland entdeckt. Auf den Tag genau sechs Jahrzehnte, nachdem Leo gefallen war, war der kleine Bruder Wolfgang 2002 als schon betagter Mann an seinem Grab. Für ihn schloss sich ein Kreis.

Kannengießer selbst kämpfte im Krieg in Dänemark und Frankreich. Urlaub bekam er nur, nachdem das Haus seiner Eltern beim Pfingstangriff zerstört worden war. Zum Glück hatten sie es hinaus geschafft. Nach dem Krieg und kurzer Gefangenschaft kehrte der gebürtige Pempelforter heim, ging ans Robert-Schumann-Koservatorium und durfte an einer der wenigen nicht im Krieg zerstörten Orgeln der Stadt in Kalkum üben. Im Kirchenchor lernte er Elisabeth kennen — „meine gute Frau“, wie er sie heute nennt. Eine tolle Stimme habe sie gehabt. Deshalb nahm er sie mit zu seinen Eltern, übte mit ihr die großen Klassiker. „Meine Mutter sagte: Wenn du mal so ein Mädchen nach Hause bringst, dann sage ich Ja“, erinnert sich Kannengießer. Und er heiratete sie. „Wir haben uns sehr geliebt“, sagt er voller Wärme. Und dann fast verschmitzt: „Das sehen Sie daran, dass wir fünf Kinder hatten.“ Fünf Söhne — von denen einer tödlich verunglückt ist. „Meine Frau hat in Kaiserswerth im Krankenhaus jedes Mal nur gefragt: Ist wieder ein Zipfelchen dran?“

Elisabeth starb vor vier Jahren. Aber drei seiner Söhne begleiten Kannengießer gestern in die Mahn- und Gedenkstätte. Und von dort aus ins Uerige. „Bastian, kommste mit?“, fragt das Geburtstagskind den Leiter der Gedenkstätte Bastian Fleermann fröhlich. Ihn hat er in dessen Messdienerzeit in Ratingen-Lintorf betreut, wo Kannengießer bis 1987 Organist war. Sie sind sich spürbar nah, lachen ebenfalls viel zusammen. „Der Glaube hat mich getragen“ lautet das zentrale Zitat auf Wolfgang Kannengießers Stele. Und es scheint, als hätte seine Kraft wiederum viele andere Menschen um ihn herum getragen.

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